Bonuskapitel 3 - Ubeyd

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Schiggy und Bisasam

UBEYD

„Wie finden wir uns selbst wieder? Wie kann sich der Mensch kennen? Er ist eine dunkle und verhüllte Sache; und wenn der Hase sieben Häute hat, so kann der Mensch sich sieben mal siebzig abziehn und wird noch nicht sagen können:
»Das bist du nun wirklich, das ist nicht mehr Schale«."

Friedrich Nietzsche

„Ubeyd? Kannst du die Tür öffnen, oğlum (mein Sohn)? Ich bin gerade am Kochen", ertönt die Stimme meiner Mutter durch meine offene Zimmertür, weswegen ich mich schnell von dem Stuhl erhebe, an dem ich seit einer geraumen Zeit sitze und die Treppen runterlaufe. Seitdem Mina zum Studieren weggezogen ist, verbringe ich die meiste Zeit in meinem Zimmer, an meinem Schreibtisch. Entweder arbeite ich die Vorlesungsinhalte nach oder bin mit Zeichnungen beschäftigt, die ich — sobald ich mehr Zeit habe — an die Außenwand des Jugendhauses sprayen werde, wo Mina, Mehdi und ich quasi aufgewachsen sind.

Als ich die Tür öffne, erblicke ich Zeyd vor mir, weswegen ich die Augenbrauen unwillkürlich zusammenziehe. „Kann es sein, dass du nur auf dein Handy schaust, wenn Mina dir schreibt?", fragt er gerade heraus. Ich fühle mich ein kleines bisschen ertappt, denn genau das tue ich, sobald ich mich in meine Schale zurückziehe. Wenn ich mich zurückziehe, sobald sie in Frankfurt ist.
„Hadi Schiggy (Los), wir wollen raus.", sagt Zeyd mit Nachdruck, als er realisiert, dass ich nicht antworte.  „Wer ist wir? Wohin wollt ihr? Und wieso soll ich mit?", ich trete unwillkürlich einen Schritt zurück und hoffe innerlich, dass Zeyd meine abweisende, Schutz suchende Art akzeptiert und mich alleine lässt. „Wir sind Mehdi, Xidir, Abbas und ich. Wir dachten, dass wir zu Mauritius gehen. Eine Kleinigkeit essen und trinken. Und du sollst mit, weil wir das so wollen", argumentiert der Junge, der mir näher steht als meine leiblichen Cousins. Und genau aus diesem Grund stört es mich, dass er mich dazu drängen möchte, dass ich mitkomme. Denn er weiß zu gut — wie auch der Rest unserer Familie —, dass ich gerade Zeit für mich brauche. „Zeyd, lasst mich doch einfach in Ruhe. Seit einem Monat schreibt mir Sena Abla nun ständig, gerade stehst du vor meiner Tür. Was wollt ihr von mir?", jammere ich und bemerke im gleichen Moment, dass ich mich wie ein kleines Kind anhöre.
„Ubeyd, rede nicht so viel und komm doch einfach mit!", Zeyd blickt mich auffordernd an und seine Blicke werden strenger. „Ich habe gerade echt keine Lust", ich schaue kurz in den Ganzkörperspiegel und erblicke meine tiefen Augenringe — diese machen sich immer so schnell sichtbar, wenn ich nach Minas Abreise weniger schlafe und mich gehen lasse.
„Teyze (Tante)!", ruft Zeyd in das Haus rein und lässt mich ungläubig die Augen aufreißen. „Du willst mich nicht allen ernstes bei meiner Mutter verpetzen?", frage ich entsetzt und hoffe, dass meine Mama dieses eine Mal nicht so gute Ohren hat. „Doch", grinst Zeyd und im nächsten Moment steht schon meine Mutter hinter mir — mein Glück ist echt ein mieser Verräter.
„Was ist los, Zeyd?", die Stimme meiner Mutter ist besorgt, denn normalerweise würde Zeyd nicht nach ihr rufen, sondern würde zu ihr hingehen. „Dein Sohn spielt lieber den Asozialen als mit uns zu kommen. Verjag ihn mal bitte aus dem Haus", entsetzt schüttle ich mit dem Kopf und blicke über meine Schulter zu meiner Mutter, die für einen kurzen Augenblick schief lächelt. Als sie sich wieder sammelt, blickt sie mich aus kritischen Augen an. „Komm doch rein, Zeyd. Ich mache dir einen Kaffee, solange ich diesen Sturkopf überrede", sie zieht mich zur Seite, sodass Zeyd an uns vorbeilaufen kann. „Ich mache mir meinen Kaffee schon selbst, solange dein Sohn mit mir mitkommt", er grinst leicht und verschwindet in der Küche.

„Du weißt, dass du dich nicht jedes Mal in deine Schale verkriechen kannst, wenn Mina zurück nach Frankfurt fährt? Du bist keine Schildkröte, mein Schatz, sondern ein Mensch", vorsichtig streicht mir meine Mutter über die Wange und automatisch schließe ich die Augen und schmiege mein Gesicht an ihre Hand. „Ubeyd", flüstert sie und zieht mich in eine Umarmung. Sobald sie ihren Kopf auf Höhe meines Herzens ablegt, drücke ich ihr einen Kuss aufs Haar und atme ihren süßlichen Duft tief ein. „Tamam gidiyorum anne (Okay, ich gehe, Mama)", murmele ich und sorge dafür, dass sie sich grinsend von mir löst. „Hadi git kendine bi çeki düzen ver (Los, geh dich in Schale schmeißen)", sie lächelt leicht und nickt in die Richtung der Treppen, die zu unseren Schlafzimmern führt. „Wieso? Das passt doch so", ich schaue an mir herunter — zwar trage ich eine Jogginghose und einen Hoodie, aber das sind Kleidungsstücke in denen ich mich wohl fühle und mit denen ich mich problemlos unter Menschen mischen kann. „Ubeyd!", spricht meine Mutter warnend aus, weswegen ich tief durchatme und anschließend nicke.

Bunter SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt