24. Vergessen

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FATIH

„You will never forget a person who came to you with a torch in the dark."

„Fährst du zu deiner Schwester?", Mislina blickt mich aus müden Augen an, als ich gefolgt von ihr in ihr Zimmer trete und nach meiner Jeansjacke greife, die auf ihrem Bett liegt. Sie macht es sich auf ihrem Bett gemütlich und greift nach ihrem Kuscheltier — dem Adler, den Hajdar ihr, Mihriban und Valdetja geschenkt hatte — , das zwischen ihren Kissen liegt.
Es ist vorerst ihre letzte Nacht zuhause, morgen früh wird sie stationär aufgenommen und gleich darauf soll ihre Therapie anfangen.

Der Adler erinnert mich unwillkürlich an Hajdar und seinen verstorbenen Vater, weswegen ich mir eine traurige Miene zu unterdrücken versuche. Es ist kein großes Geheimnis, dass ich Angst davor habe, dass Mislina ein ähnliches Schicksal erleben wird, wie Onkel Durim — dass der Krebs seine Krallen nicht von ihr lassen wird. „Ja, aber ich fahre erst, nachdem du eingeschlafen bist", ich nicke leicht, ziehe den Schreibtischstuhl zu ihrem Bett, lege meine Jacke über die Stuhllehne und lasse mich nieder. „Du kannst auch nach Hause fahren, also nach Kassel oder Hannover", Mislina meidet meinen Blick und starrt stattdessen auf den Adler in ihren Händen. Über ihre Worte ziehe ich unwillkürlich die Augenbrauen zusammen, denn ich versuche zu verstehen was ihr Ziel ist. „Ich möchte aber bei dir bleiben, dir eine starke Schulter zum Anlehnen bieten", ich lehne mich so weit vor, dass ich ihr eine ihrer blonden Locken hinter ihr Ohr streiche. Ihre darauffolgende, plötzliche Anspannung irritiert mich. „Okay", sie nickt verklemmt.
Ich versuche mich zusammenzureißen, denn wenn ich die Beherrschung über mich verliere, werde ich sie anfahren — und das ist das letzte, was ich möchte. Sie verhält sich anders als sonst, kälter als sonst. So kenne ich sie nicht.

„Soll ich dir etwas vorspielen?", ich deute auf die Gitarre, die an ihrer Wand hängt und hoffe somit das Eis etwas zu brechen. Sofort blickt Mislina mit leuchtenden Augen zu mir und schenkt mir ein Lächeln, das mir die Luft zum Atmen raubt — meine blonde Schönheit, mein Zuckerengel.
„Das würdest du?", vergewissert sie sich und nickt eifrig. Lächelnd stehe ich auf, greife nach der Gitarre und lasse mich erneut auf dem Stuhl nieder. Nachdem ich eine gemütliche Position eingenommen habe, blicke ich in Mislinas Augen und fordere sie stumm dazu auf sich ein Lied zu wünschen. „Vielleicht etwas traurigeres?", murmelt sie, legt den Kopf schief und ergänzt: „Mir ist nicht nach Lachen zumute."
Mein Herz setzt kurz aus, ich würde ihr am liebsten all ihre Schmerzen nehmen, ihr all ihre Sorgen vergessen lassen. Tief atme ich durch, versuche mich an die Akorde meiner Lieblingslieder zu erinnern und positioniere die Finger meiner linken Hand auf den Saiten der Gitarre.
„Wäre Bilal da, hätte er dieses Lied voller Hingabe mitgesungen. Und auch viel besser als ich", ich schenke Mislina ein trauriges Lächeln, das sie erwidert.

Auf unsere Toten.

Yan yana geçen geceler unutulup gider mi?
Acılar birden biter mi? (Geraten die gemeinsam verbrachten Nächte in Vergessenheit? Hören die Schmerzen plötzlich auf?)", singe ich bemüht. Ich bin ein Anfänger im Gesang, dementsprechend aufgeregt. Meine, über die Saiten der Gitarre gleitenden, Finger erinnern mich jedoch an mein Talent, an die Vergangenheit.

Als Bilal noch am Leben war, habe ich regelmäßig gespielt, während Bilal dabei leidenschaftlich gesungen hat. Seine Stimme war perfekt, ging jedem, der sie hörte, durch Mark und Bein und bereitete uns immer wieder eine Gänsehaut.

Ich hebe den Blick von meinen Fingern und schaue zu Mislina, die mir mit tränengefüllten Augen zusieht. „Kendine iyi bak, beni düşünme.
Su akar yatağını bulur ( Pass gut auf dich auf, denk nicht an mich. Das Wasser fließt und findet sein Flussbett)", singen wir den Refrain gemeinsam, während ihre Stimme zittert. Ich möchte das Lied unterbrechen, doch schüttelt sie den Kopf, als ich den Hals der Gitarre umfasse und aufstehen will. Es ist eine wortlose Bitte. Sie möchte, dass ich das Lied zu Ende spiele und genau diesem Wunsch gehe ich nach.
Mit dem Ende des letzten Akkordes, erhebe ich mich von dem Stuhl und hänge die Gitarre wieder an die Wand, an seinen Platz.
Mislinas Bett gibt ein leichtes, kaum hörbares Quietschen von sich und darauf folgen langsame Schritte. Ich denke, dass sie mich umarmen wird, doch als sie einige Schritte hinter mir stehen bleibt, ziehe ich die Augenbrauen zusammen und drehe mich zu ihr um. „Ist alles in Ordnung?", erkundige ich mich. Meiner Stimme ist so viel Sorge herauszuhören, dass ich selbst kurz stocke.
„Fatih, wir müssen reden", höre ich Mislina ernst sagen, weswegen sich mein besorgter Ausdruck zu einem fragenden ändert. „Du weißt, dass ich dich liebe und nur das beste für dich möchte", sie atmet tief durch, blickt kurz an die Decke und schaut mir anschließend wieder in die Augen, „Ich habe lange überlegt und bin zu dem Entschluss gekommen, dass eine Trennung für uns das Beste wäre."

Bunter SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt