3. Das erste Aufeinandertreffen

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MISLINA

„I didn't choose you. I just took one look at you, and then — there was just no turning back."

„Zemer, warte doch noch die Stunde auf meinen Bruder, der würde dich auch zu Zümra Abla fahren", Valdetja blickt verzweifelt aus dem Fenster und anschließend zu mir — heute scheint der Regen nicht aufhören zu wollen. „Ach quatsch, das würde für ihn doch nur ein Umweg sein. Außerdem muss ich noch kurz in die Stadt, das passt schon, mach dir keine Sorgen", ich drücke ihr einen Kuss auf die Wange und sammele meine Sachen zusammen, damit sie in ihre letzte Unterrichtsstunde gehen kann. Seitdem wir in der Oberstufe sind, haben wir so unterschiedliche Stundenpläne — nur einige Kurse belegen wir gemeinsam und das zerrt echt an meinen Nerven, da ich die Leute aus unserem Jahrgang nicht sonderlich leiden kann.

Während die Interessen ihres Bruders Hajdar und meiner Schwester Mihriban nicht ähnlicher sein können, sind wir — Valdetja und ich — schon fast komplette Gegensätze. Während sie ein richtiges Mathe-Ass ist, liegen meine Stärken eher in sozialen Bereichen.

„Los, geh zu Mathe. Und Grüß Hajdar von mir", ich schubse sie leicht in die Richtung, in die sie muss und mache mich gleich auf den Weg zur Haltestelle, um in die Stadt zu fahren. Der Wind weht stark und lässt mich immer wieder erschaudern, sodass ich meine Jacke fester um meinen Körper schlinge und die Arme vor der Brust verschränke.

Nachdem ich meine Erledigungen gemacht habe, beschließe ich die restliche verbleibende Zeit bis ich zur Nachhilfe muss, mit einem Spaziergang im Schlossgarten zu verbringen — der Regen hat fast aufgehört und einzelne Sonnenstrahlen erleuchten die grüne Wiese. Ich laufe stumm durch den Park und um den künstlich angelegten Teich und realisiere, wie sehr ich es nötig habe einige Stunden in der Natur zu verbringen — vielleicht zwinge ich meiner Familie einen Wochenendausflug auf.

Als ich jemanden verzweifelt weinen höre, schaue ich aus Reflex um mich und versuche die Quelle des Leides zu finden. Mein Blick bleibt an einem Jungen hängen, der sich auf die Wiese um den Teich gesetzt, die Beine fest an seine Brust gezogen und den Kopf auf den Knien platziert hat.
Der Regen fängt plötzlich an wieder stärker zu werden, weswegen ich auf ihn zu eile und meinen Regenschirm über uns beide halte. Überrascht blickt er hoch und lässt mein Herz einen Satz schneller schlagen.
Ich habe noch nie so schöne Augen gesehen.
„Möchtest du reden?", frage ich vorsichtig und gehe vor ihm in die Knie. Seine Blicke liegen auf mir, beobachten jede meiner Bewegungen und versuchen vermutlich zu verstehen, was ich vorhabe.
„Denkst du, dass es etwas bringt darüber zu reden?", seine Stimme ist verletzt, brüchig und verdammt tief. „Ich bin ein Wrack, ich bin vermutlich nicht mehr zu retten. Du kannst gerne weiterlaufen, es ist kalt und nass, lass dich nicht von mir beirren", sagt er zwar, doch seine Blicke flehen mich an zu bleiben. „Wollen wir dir zumindest einen neuen Pullover kaufen? Deine Jacke und dein Pulli sind total durchnässt. Wenn du die noch länger anbehältst, wirst du krank", ich halte ihm vorsichtig die Hand hin und lächele zögernd. Er seufzt laut auf, nickt und legt mir seine Hand in die Hand. Sobald sich unsere Finger berühren, bekomme ich eine unerklärliche Gänsehaut und muss mich zusammenreißen bei der Sache zu bleiben. Ich stelle mich mit einem Ruck auf und ziehe ihn mit mir hoch. Wir kommen uns unabsichtlich viel zu nahe, weswegen ich einen Schritt nach hinten mache. „Komm mit", ich lächele zögernd und laufe in die Richtung der Königsstraße, um ihn in den nächstbesten Laden mitzuziehen.

Sobald wir im H&M stehen, greife ich nach einem Hoodie und einer Jeans — auf dem Weg hierher hat er mir seine Kleidergrößen verraten — und steuere die Kasse an. Nachdem ich bezahlt habe, dirigiere ich ihn zur Umkleide und warte geduldig vor der Kabine.
„Danke", er lächelt leicht, es ist nicht herzlich und auch nicht ernst gemeint — er verflucht mich innerlich vermutlich, weil ich ihn aus seiner Schmerzauslebung gezogen habe. „Jetzt gehen wir am besten in ein Café und du erzählst, natürlich nur wenn du möchtest, was dich bedrückt", ich laufe zum Ausgang und er folgt mir stumm. Die nassen Klamotten und auch seine Jacke sind in der Tüte verstaut, in der die Einkäufe drin waren.

Bunter SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt