27. Wiedersehen

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MISLINA

„Der nicht gelernt hat zu sagen: »Die, und keine andere«, weiß nicht, was Liebe ist."

Vincent van Gogh

— ein halbes Jahr später —

Ich versuche mir die Trauer nicht anmerken zu lassen, während ich per Videoanruf zur Geburtstagsfeier von Hamza und Sena involviert werde. Sena rennt mit dem Handy ihres Vaters herum und nimmt es ab und an in den Mund, sodass ich in diesen Momenten nicht viel mitbekomme. Dennoch sind die Stimmen unserer Familienmitglieder zu hören, was in mir zur gleichen Zeit ein friedliches Gefühl entfachen lässt. „Senam (Meine Sena)", höre ich plötzlich Fatihs Stimme, die mit meiner Nichte spricht und spüre meinen immer schneller werdenden Herzschlag. „N'aptın? Babanın telefonunu alıp kaçtın mı? (Was hast du gemacht? Hast du deinem Vater das Handy weggenommen?)", er lacht rau und hebt sie hoch. In diesem Moment hält Sena das Handy so, dass ich ihn sehe. Zeitgleich blickt auch Fatih auf das Display und wir schauen einander nach Monaten wieder in die Augen. Selbst übers Handy ist die Spannung zwischen uns zu spüren.
„Aciyo? (Tut es weh?)", flüstert Sena und streicht Fatih eine Träne aus dem Gesicht. „Yok, güzelim. Acımıyor. İyiyim ben (Nein, meine Hübsche. Es tut nicht weh. Mir geht's gut)", er drückt ihr einen Kuss auf die Wange, läuft mit ihr aus dem Flur ins Wohnzimmer und setzt sie auf dem Boden ab. Nur sehr leise bekommt man mit, wie er sich Schritt für Schritt entfernt. „Hallo Mislina Abla", ruft Mahir — Azad Abis Neffe — freudig aus und nimmt Sena das Handy ab. Die kleine Hexe beschwert sich anfangs, doch drückt Mahir ihr zum Trost ihren Kuschel-Croissant in die Hände. Sie brabbelt einige Worte vor sich hin, bis sie sich zufriedengibt und mir ein Lächeln entlockt.

„Wie geht's dir?", fragt Mahir, mit einer ernsthaften Besorgnis in der Stimme. Ich muss breit lächeln, denn dieser Siebenjährige hat mehr Empathievermögen als manch Erwachsener. „Mir geht's gut, mein Löwe. Wie geht's dir? Und dem Rest?", sobald ich aus dem Krankenhaus entlassen werde, werde ich jeden sehnsüchtig umarmen.
„Uns geht's gut. Es wäre natürlich schöner, wenn du auch hier wärst, aber deine Gesundheit ist wichtiger als alles andere!", er schenkt mir ein trauriges Lächeln, läuft dann etwas im Wohnzimmer herum, ehe er sich neben Mirza Abi — Fatihs Bruder — hinsetzt. „Ich gebe das Handy einfach mal in der Runde rum, damit dich jeder auf dem Laufenden halten kann. Da sind nämlich einige verlobt", grinst Mahir nun frech und reicht das Handy dem Bruder meiner großen Liebe. „Hallo Mirza Abi", ich lächle ihn zögernd an und mein Herz erwärmt sich, als er mir ein herzliches Lächeln schenkt.
„Hallo kleiner Sonnenschein! Wie geht's dir?", er legt den Kopf schief und mustert mich. Unwillkürlich wandert meine Hand zu meinem Turban und rückt ihn zurecht. An Tagen, wo ich meine Glatze nicht sehen möchte, lege ich mir meinen Turban um. „Ich wäre gerne bei euch", gestehe ich und spüre, dass sich meine Augen füllen. „Nicht weinen", höre ich Mahir flüstern und lache stattdessen — dass meine Gefühlslage komplett auf dem Kopf steht, muss ich wohl kaum erwähnen. „Mahir wollte, dass ich dir meine Verlobte vorstelle", er dreht die Kamera so, dass nun eine Brünette zu sehen ist. Sie strahlt mich an und nimmt Mirza das Handy aus der Hand. „Hallo, Mislina. Ich bin Nila. Ich habe schon so viel von dir gehört und freue mich schon darauf dich endlich kennenzulernen", ihre Stimme und ihre Art sind so vertraut, dass ich mich schon jetzt mit ihr anfreunden könnte. „Ich hoffe doch nur positives", ich grinse leicht und entlocke Mirza Abi ein Lachen. Es kommt vom Herzen und als er erneut das Handy in seinen Händen hält, dieses Mal aber seine Verlobte ebenfalls zu sehen ist, bekomme ich auch seinen Gesichtsausdruck mit. Mein Herz erwärmt sich, denn er erinnert mich dabei an Fatih. „Von dir kann man nur schwärmen, Sonnenschein", er ist nun wieder ernst, lächelt aber sanft, als er meinen Blick bemerkt. „Soll ich ihn dir zeigen?", flüstert er und schon wechselt die Perspektive zur Hinterkamera. Man sieht das geräumige Wohnzimmer von Azad Abi und Zümra abla, die inzwischen in das Haus von Azad Abis Großeltern gezogen sind. Überall sind unsere Familienmitglieder, die den Raum mit Leben füllen. Etwas abseits von allen sitzt Fatih auf einem Sessel und schaut auf sein Handy, tippt eifrig darauf herum und zieht die Stirn kraus. Unwillkürlich fange ich zu lächeln an — es ist anders, es ist herzlich —, denn ich vergesse unsere Situation, vergesse unsere Trennung und fokussiere mich lediglich auf ihn. Als ein unbekanntes Mädchen im Wohnzimmer erscheint und Hamza auf Fatihs Schoß absetzt, ziehen sich meine Augenbrauen zusammen.
Wer sie wohl ist?

Bunter SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt