15. Kaffee und Croissant

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MISLINA

"He broke the girl who loved him more than she loved herself."

E. Grin

Der größte Hinweis für mich, dass ich mein Leben nicht mehr im Griff habe, ist ein unregelmäßiger Schlafrhythmus, den ich seit einigen Wochen zweifelsfrei habe.
Seit dem Gespräch mit Fatih sind nun etwa eineinhalb Monate vergangen, in denen ich ihm glücklicherweise ohne allzu viel Mühe aus dem Weg gehen konnte — dabei waren mir das Vorlesungsende und meine Freunde eine sehr große Hilfe. Mir ist aber klar, dass wir uns spätestens zur Geburt von Azad Abis Sohn — in wenigen Tagen — begegnen werden. Ob ich mich darauf freue oder nicht, kann ich nicht sagen.
Es ist mitten in der Nacht und eigentlich müsste ich schon seit einigen Stunden schlafen, doch liege ich hier, starre meine Zimmerdecke an und mache mir Gedanken über Sachen, die ich seit Wochen zu verdrängen versuche. Gerade als ich den Gedanken um Fatih fortführen möchte — denn ich habe es wirklich vermisst stundenlang an ihn zu denken —, leuchtet mein Handy auf und die Musik, die leise im Hintergrund läuft, verstummt für einen kurzen Moment, um dem Nachrichtenton freie Bahn zu machen.
Zümra abla hat ihre Wehen. Wenn du es zeitlich schaffst, mach dich morgen auf den Weg hierher. Ich habe dir etwas Geld überwiesen, falls du gerade etwas knapp bei Kasse sein solltest", lese ich die Nachricht meiner Schwester, die mich unwillkürlich lächeln lässt. Vermutlich denkt sie, dass ich schlafe und die freudige Botschaft erst in einigen Stunden erhalten werde.
Ohne lange zu überlegen und voller Aufregung stehe ich aus dem Bett auf und sammle einige Sachen zusammen, damit ich noch in der Nacht losfahren kann. Als ich nach der Plüschfigur greife, die ich für meine Nichte gekauft habe, muss ich unwillkürlich einige Monate zurück denken.

„Schau mal, den habe ich Zümras Sohn gekauft", Fatih hält mir sein Handy hin, auf dessen Display ein Kuschel-Coffee-To-Go-Becher ist. Fasziniert nehme ich sein Smartphone in meine Hand und schaue es mir genauer an. Ohne lange zu zögern drücke ich auf den Banner, um andere Kuscheltiere der Marke zu finden. Zufrieden lächelnd kopiere ich den Link eines Kuschel-Croissants und verlasse die Internetapp. „Kann ich mir das kurz schicken?", frage ich Fatih und schaue in seine Augen. Diese leuchten heller als der — für einen Winter ungewöhnlich — blaue Himmel. „Natürlich", er nickt zustimmend und ich drücke auf das grüne WhatsApp-Symbol. »🍬👼🏻«, lese ich den Namen, den ich zu meinem Profilbild zuordnen kann. Bevor ich den Namen jedoch hinterfragen kann, taucht Alim hinter Fatih auf. „Hey Mislina, wir müssen ganz dringend los. Bis morgen früh", der Tschetschene lächelt mich breit an und nachdem ich Fatih sein Handy zurückgebe, zieht er diesen mit sich zum Ingenieursgebäude.

Ich kann nicht verhindern, dass ein breites Lächeln mein Gesicht einnimmt — denn ich liebe Fatih noch immer, trotz seiner verletzenden Worte.

Nachdem ich das Wichtigste in einen kleinen Koffer gepackt, mein Zimmer etwas aufgeräumt und Elif eine Notiz auf den Küchentisch gelegt habe, gehe ich aus der Wohnung. Dass ich gerade hellwach bin und die Straßen vermutlich leer, lassen mich freudig zu meinem Auto sprinten. Es ist nichts auffälliges — ein einfacher VW Golf, der mich auf meiner langen Fahrt nicht auf der Strecke lassen würde.

Die Euphorie, die ich empfinde, lässt mich die Zeit vergessen und ehe ich mich versehe, erreiche ich nach einer fünfstündigen Fahrt gegen 7 Uhr mein Elternhaus. Bevor ich aus dem Auto aussteige, rufe ich Elif an, um sie pünktlich für die Arbeit zu wecken. Schlaftrunken murmelt sie einige Wörter, anschließend ist ein leises Knirschen zu hören und als ich höre, dass sie mit ihrem Pantoffeln durch die Wohnung läuft, lege ich zufrieden auf. Sobald sie wacher ist, wird sie realisieren, dass ich nicht im Haus bin und wird mich anrufen.
Gleich darauf rufe ich Arthur an und bitte ihn darum mich immer mal wieder zum Lernen zu motivieren, da wir in einer Woche unsere letzte Prüfung für dieses Semester haben. Er ist in den frühen Morgenstunden produktiver, weswegen er bereits um die Uhrzeit auf den Beinen ist. „Wann kommst du zurück?", fragt er vorsichtig nach, was mich lächeln lässt. „Ich denke ich bin spätestens einen Tag vor der Klausur da", informiere ich ihn. „Okay, Moment. Heute ist Dienstag und unsere Prüfung ist nächste Woche Donnerstag. Heißt spätestens Mittwoch bist du hier?", seine Worte bringen mich unwillkürlich zum Lachen. „Gut, dass du die Tage noch im Sinn hast, Arthur! Ich bin stolz auf dich", versuche ich ernst zu sagen, doch scheitere ich kläglich daran. „Lach mich nicht aus! Es ist früh am Morgen und wir sind in der Klausurphase, da darf man doch wohl den Überblick verlieren", ich stelle mir vor, wie er schmollend die Unterlippe vorschiebt, was mich breit grinsen lässt. „Okay, okay. Ich hab nichts gesagt. Ich lege jetzt auf, ja? Bin todmüde", und wie auf Knopfdruck muss ich laut gähnen. „Oh je, du bist die Nacht durchgefahren. Geh sofort ins Bett und schlaf eine Runde. Wir sprechen uns später", verabschiedet er sich.

Bunter SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt