Bonuskapitel 10 - Halay

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"I don't have friends, I have family."

Domenic Toretto in Furious 7

Während die laute Halay-Musik im Hintergrund zu hören ist, versuchen sich die Ünals und Baltas so gut wie nur möglich zu verständigen. Da sie ziemlich weit hinten sitzen, geht das einigermaßen gut.
„Baba", unterbricht Mehdi das Gespräch seines Vaters und dessen besten Freundes. „Efendim oğlum? (Was gibt's mein Sohn?)", antwortet sein Vater mit einem fragenden Lächeln. „Du solltest auch Halay tanzen gehen. Azad Amca und du solltet allen Leuten zeigen, wie man wirklich Halay tanzt", das schelmische Grinsen auf Mehdis Gesicht entgeht Okan nicht, weswegen auch er grinsen muss. „Ich glaube nicht, dass deine Mutter damit einverstanden ist", redet er sich heraus und legt sein Wasserglas an seine Lippen, um einen großen Schluck zu nehmen. „Du bist der Mann im Haus, nicht Anne. Dein Wort ist Gesetz", redet sich Mehdi in Rage — dabei weiß er selbst, dass seine Worte das Gegenteil der Realität widerspiegeln.
In der Ehe seiner Eltern geht es vor allem darum, dass es beiden gut geht, dass beide jede Handlung akzeptieren und tolerieren.
„Mehdi sınırlarını zorluyorsun, haberin olsun (Mehdi, du spielst mit dem Feuer, nur dass du Bescheid weißt)", hört er im selben Moment seine Mutter sagen. „Anne, du darfst den Leuten Babas Halaykünste doch nicht vorenthalten. Das ist unfair", zieht Mehdi nun seine Mutter auf. „Willst du heute Nacht draußen schlafen oder wieso diese Anstrengung?", wird er von Verâ gefragt, was alle am Tisch zum Lachen bringt. Mehdi steht grinsend auf und drückt seiner Mutter einen Kuss auf die Wange. „Kıskanç (Eifersüchtige)", spricht er nebenbei.
"Babanı kıskanmayacağım da kimi kıskanacağım? (Auf wen soll ich eifersüchtig sein, wenn nicht auf deinen Vater)", entgegnet Verâ ihm. „Oho Okan Bey, duyuyor musunuz? (Herr Okan, haben Sie das gehört?) ", grinst Mehdi seinen Vater an. „Was hast du gesagt?", fragt Okan nun deshalb seine Ehefrau interessiert, welche lediglich mit den Schultern zuckt. Er blickt darauf fragend zu seinem Sohn. „Bir yüzlük verirsen belki söylerim (Wenn du mir einen Hunderter gibst, sage ich es dir vielleicht)", versucht Mehdi zu verhandeln, woraufhin Mina ihm auf den Arm schlägt. Er ist heute wirklich gut gelaunt und lässt es auch jeden spüren. „Git işine eşeksıpası (Geh weg, du Sohn eines Esels)", lacht sein Vater. Mehdi gibt aber sofort nach und erzählt seinem Vater, was seine Mutter gesagt hat. Okan senkt kurz grinsend seinen Kopf und als er ihn dann wieder aufrichtet, sieht er seine Frau voller Bewunderung an. Diese lächelt ihm liebevoll zu. Alle am Tisch sind begeistert von ihrer Liebe, ihrem Zusammenhalt und ihrer — niemals enden wollenden — Dankbarkeit.
„Ah aşık kumrular ah (Ihr Turteltauben)", spricht Mehdi theatralisch und kassiert von seiner Mutter einen leichten Schlag gegen seine Brust.

Sobald seine Neckereien fertig sind, greift Mehdi nach der Hand seiner besten Freundin und zieht sie mit sich hoch. Mina gibt schneller nach, als sonst und folgt ihrem besten Freund auf die Tanzfläche, wo sie sich dem Tanzkreis anschließen. „Kann Vahap eigentlich halay tanzen?", ertönt die Stimme von Kenan dicht hinter den beiden, weswegen sie sich überrascht umdrehen. „Wann seid ihr denn gekommen?", fragt Mina erfreut und umarmt den Frankfurter. „Gerade eben. Ich habe gesehen, wie ihr auf die Tanzfläche gelaufen seid und bin euch hinterher", lacht dieser nur und grüßt Mehdi mit einem Handschlag, ehe sich die drei der Halaykette anschließen. „Ja, Vahap kann Halay tanzen", kommt es nun völlig unerwartet von der Seite, noch bevor die drei richtig im Tanzfluss sind. Mina hält inne, als sie ihren — inzwischen standesamtlich angetrauten — Ehemann vor sich sieht. Sie löst ihre Hände von den beiden Jungs und läuft zu Vahap, der sie in eine enge Umarmung zieht. „Was suchst du denn hier?", flüstert sie und kann es nicht verhindern, dass sich ihren Augen füllen. Seit ihrem Abschluss vor einem Monat wohnt sie wieder bei ihren Eltern und sieht Vahap deswegen nur noch selten. „Mein Schwiegervater meinte, dass er mich den Leuten hier vorstellen will. Er ist nicht so begeistert davon, dass sich so viele Jungs nach dir umdrehen — und das bin ich auch nicht, nur fürs Protokoll", er grinst breit, bringt seine Grübchen zum Vorschein und lässt Mina tief durchatmen. „Ich liebe dich", flüstert sie in sein Ohr und drückt ihm einen hauchzarten Kuss auf die Wange, ehe sie nach seiner Hand greift und zielstrebig auf Mehdi und Kenan zuläuft.

„Aferin, oğlum (Gut gemacht, mein Sohn). Du tanzt sehr gut Halay", Azad legt Vahap einen Arm auf die Schulter, als dieser nach einer langen Halayrunde am Tisch ankommt, wo die Familie seiner Ehefrau sitzt, und jeden begrüßt. „Du hast deinen letzten Test überstanden, Vahap. Jetzt könnt ihr in Ruhe heiraten", lacht Mehdi über die Worte seines Onkels. „Okan, wieso ist euer Sohn ein eşeksıpası geworden? (Sohn eines Esels) Ich begreife das nicht", Azad hebt die rechte Augenbraue und blickt Mehdi herausfordernd an. „Amca, das war doch nicht böse gemeint", versucht Mehdi sich herauszureden, denn wenn er in all den Jahren etwas gelernt hat, dann dass Azad noch immer eine stabile rechte Faust hat. „Das sagen sie alle. Lass meinen Vater in Ruhe", Mina zwickt Mehdi in die Seite und schaut schließlich zu Vahap, der das ganze Geschehen breit grinsend beobachtet.

Als er Mina im ersten Semester zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er sich zwar erhofft, dass sie ein Teil seines Lebens wurde, doch konnte er sich nicht ausmalen, wie schön es war ein Teil ihres Lebens, ihrer Familie zu sein. Weder sie noch ihre Familie hatten seine Tattoos zum Problem gemacht, nicht seine Vergangenheit, nicht seine kaputte Familienstruktur. Mina war nicht nur seine Lebensgefährtin geworden, sondern seine ganze Familie. Er hatte nur sie, konnte nur auf sie vertrauen und das machte sie in seinen Augen so unverzichtbar, so unersetzbar.

„Schau sie nicht so offensichtlich an. Mevlüt Amca mag es nicht, dass du Minas Zeit so sehr in Anspruch nimmst", Ubeyd stupst seinen Schwager an, der seit einigen Minuten total unbeirrt zu Mina schaut. „Oh", formt Vahap mit seinen Lippen, senkt beschämt den Kopf und atmet tief durch. „Wir sind auch dankbar, dass du unser Leben bereicherst. Vertrau mir", spricht Ubeyd weiter auf Vahap ein und bekommt einen so dankbaren Blick zugeworfen, dass er versteht, was Mina an ihm findet. „Du bist ein so unglaublich toller Bruder", Vahap lächelt den Bruder seiner Ehefrau an und lässt auch ihn lächeln.

Diese Großfamilie — nein dieser Clan — ist eine Segnung für alle. Sowohl für diejenigen, die hineingeboren wurden, als auch für diejenigen, die per Zufall reingeraten sind. Sie sind das perfekte Beispiel dafür, dass eine Familie nicht durch Blutsverwandtschaft gemessen wird, dass Freunde sehr wohl zur Familie werden können und dass sie das Leben bereichern, erleichtern und lebenswert machen können...

Auf Familie und auf Freunde, die zur Familie werden...

Bunter SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt