6. Überraschende Begegnung

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FATIH

„The bravest thing I ever did was start over, rebuild myself from the wreckage of my own brokenness."

„Alim", höre ich Yasir wimmern und muss mir ein Lachen verkneifen, „wie hälst du es täglich in dieser überfüllten Bahn aus." Der Tschetschener lacht nur über die Aussage unseres Freundes und rückt ein wenig näher an das Fenster, damit die Neueinsteiger auch Platz haben. „Wenn du den Luxus, der sich Wagen nennt, nicht kennst, dann bist du über jedes Fortbewegungsmittel dankbar", er grinst und fährt sich über das markante Kinn. „Wieso sind wir nochmal nicht mit dem Auto gefahren und nehmen jetzt diese unnötig überfüllte Bahn? Wir sind doch an der Uni sowieso sozial genug, muss das jetzt wirklich sein? Vor allem so früh am Morgen", meckert Yasir weiter und seufzt anschließend laut — dafür schauen uns einige andere Passanten komisch an, denn so früh ist es nicht wirklich nicht, doch es scheint den Afghanen nicht zu stören. „Fatih? Schlag ihn mal bitte", Alim schaut mich bittend an, doch ich schüttle nur lachend mit dem Kopf.

„Gewaltbereiter Tschetschener", jammert Yasir und reibt sich die Stelle an der Schläfe, an der Alim ihn leicht gehauen hat. Stumm wende ich mich zum Fenster raus, blicke zu den Menschen, die an der entgegengesetzten Haltestelle stehen und verfolge ihre Bewegungen. Eine ältere Dame steht von der Bank auf und läuft zur Bahnsteigkante und im selben Moment fährt die Bahn ein. Ich schaue in die Gesichter der Reisenden — so wie immer, wenn ich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahre — und versuche sie zu analysieren bis mir ein bekanntes Gesicht ins Auge sticht. Die blonden Locken wirbeln umher, als sie den Blick von mir abwendet, um mich im nächsten Augenblick mit weit aufgerissenen Augen anzusehen. Das freudige Leuchten ihrer hellbraunen Augen und das friedliche Lächeln kann ich trotz dem Dreck, der an den Fenstern klebt, ausmachen und automatisch bildet sich auch ein Lächeln auf meinem Gesicht.
Gerade jetzt im Moment verstehe ich, was meine Schwester damit meint, dass Mislina ein ansteckendes Lächeln hat.
Meine Blicke noch an ihr haftend, ziehe ich mein Handy aus meiner Hosentasche und wähle Zümras Nummer, die meinen Anruf bereits nach dem ersten Klingeln annimmt. „Zümra, wieso sagst du mir nicht, dass Mislina in Hannover ist?", frage ich während ich dem blonden Mädchen zuwinke, da meine Bahn weiterfährt. „Hast du sie getroffen?", stellt mir Zümra eine Gegenfrage, weswegen ich die Augen verdrehe. „Wir haben uns gerade zufällig gesehen. Und jetzt bitte ich dich um die Antwort auf meine Frage", kurz blicke ich zu Yasir und Alim, die mich verständnislos ansehen. „Ich wusste nicht, dass dich das interessieren würde, deswegen habe ich keinen Sinn darin gesehen, es dir zu sagen", antwortet meine Milchschwester ehrlich.
Eigentlich hat sie recht, eigentlich sollte es mich nicht interessieren, aber auf eine mir unerklärliche Weise tut es das doch.
„Ich weiß zwar nicht, was dir durch den Kopf geht, aber ich schicke dir mal ihre Nummer. Falls du dich bei ihr melden willst", bevor ich antworten kann, legt Zümra auf.
„Wir müssen raus", Alim stupst mich an und nickend folge ich meinen Jungs aus der Bahn. Sobald meine Schwester mir Mislinas Nummer schickt, wähle ich sie und warte ungeduldig darauf, dass sie den Anruf entgegennimmt. „Hallo?", ertönt ihre Stimme zögernd, weswegen ich breit grinse — eigentlich passt das Zögern nicht zu ihr. „Hey Mislina, ich bin's, Fatih", ich setze einen Schritt vor den anderen und folge meinen Mitbewohnern, bis beide plötzlich stehenbleiben und somit dafür sorgen, dass ich zwischen ihnen hin und her schaue. Ihre Blicke haben eine einzige Aussage: „Telefonierst du wirklich mit Mislina?"
„Hey", man hört Mislina ihre Unsicherheit aus ihrer Stimme heraus, was mich amüsiert. „Wie lange bist du noch in Hannover?", frage ich direkt heraus und ein Blcik zu meinen Jungs verrät mir, dass sie deutlich überfordert mit dieser Information sind. „Wir fahren morgen Nachmittag wieder zurück", inzwischen hat sich Mislina an die Situation gewöhnt, denn ihre Stimme klingt so selbstsicher, wie sonst immer. Als ihre Worte mein Gehirn erreichen murmele ich ein leises „Oh" und fahre mir verzweifelt durch die Haare. „Habt ihr Freizeit eingeplant? Kann ich dich zum Essen einladen?", es ist das erstbeste, was mir einfällt. „Wir gehen gleich ins buddhistische Zentrum und im Anschluss zum Escape Room. Danach hätten wir eigentlich Freizeit, aber mach dir keine Umstände", erst als Alim den Afghanen anstupst und erst auf mich zeigt und dann auf sein Lächeln, realisiere ich, dass ich seit etwa fünf Minuten breit lächelnd durch die Gegend gelaufen bin. „Das sind doch keine Umstände! Sagst du mir dann einfach Bescheid, wenn ihr fertig seid? Gerne können auch deine Freunde mitkommen. Die Albanerin kenne ich ja und die beiden Jungs schienen dir auch vertraut zu sein", die kleine Gruppe, die ich vorhin in der Bahn gesehen habe, erscheint vor meinem inneren Auge. „Okay, dann schreibe ich dir, wenn wir aus dem Escape room raus sind", Mislinas Stimme lacht förmlich, was mir inneren Frieden gibt und ich lächelnd mein Handy in meiner Hosentasche verstaue.

Bunter SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt