12. Angst und Kopfkrieg

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FATIH
- 1 Monat später -

„To fear love is to fear life, and those who fear life are already three parts dead."

Bertrand Russell

„Guten Morgen", Mislina lächelt mich und anschließend Alim kurz an, während sie sich neben uns an die Haltestelle stellt. Es ist uns im letzten Monat zur Gewohnheit geworden jeden Morgen gemeinsam zur Uni zu fahren und auf eine unerklärliche Weise macht mich das glücklich — ihr Dasein hat nahezu die ganze Stadt erhellt, sie verbreitet pure Freude.
Ich merke wie sie zu der Musik nickt, die sie gerade hört, weswegen ich meine Kopfhörer aus meinen Ohren nehme und nach dem in ihrem linken Ohr greife. Überrascht und verwirrt blickt sie auf, doch schenkt sie mir ein liebevolles Lächeln, als sie mein Vorhaben versteht.

Eigentlich sollte es mir nicht zu schaffen machen, es mal nicht zu schaffen/Nichts daran ist falsch, wenn wir nicht immer alles richtig machen/
Wisst ihr was? Ich würde nicht mehr schlafen, würde ich wissen was wohl wäre, wenn ich es nicht mehr packe", ertönt MoTrips Stimme in meinem Ohr und unwillkürlich blicke ich in Mislinas Augen, die mich beobachten. Wie jedes Mal, wenn ich die Musik des Aacheners höre, bereitet sich eine Gänsehaut auf meinem Körper aus und ich genieße jede Sekunde davon. „Guter Musikgeschmack", grinse ich und nehme den Kopfhörer wieder aus meinem Ohr, als unsere Straßenbahn in die Haltestelle einfährt.
Sobald wir nebeneinander in der Bahn sitzen, reiche ich Mislina einen meiner Kopfhörer und nachdem sie mich kurz fragend anschaut, stöpselt sie ihn vorsichtig in ihr rechtes Ohr — vor einer Woche hat sie sich mit Elif ein Piercing stechen lassen, weswegen sie etwas länger dafür braucht, als normale Menschen. Nachdem sie mir versichert, dass der Kopfhörer in ihrem Ohr ist, tippe ich auf meinem Handy herum und muss bereits lächeln, als der Beat ertönt. „Ich steh auf, guck in Spiegel, in mein'm Kopf ist Krieg/ Ich will raus aus der Scheiße, doch das Loch ist tief/ Das hier ist mein Leben, ich seh das hier nicht objektiv/ Und ich schäme mich, weil ich weiß, dass Gott mich sieht", ertönt die Stimme des Hamburger Rappers BOZ wie geplant und lässt mich unwillkürlich mein Leben überdenken. Hinter jeder Zeile steckt eine tiefere Bedeutung, wofür ich ihm unendlich dankbar bin, denn ich habe das Gefühl, dass solche Künstler gerade am Aussterben sind.
„Das ist echt gut!", sagt Mislina und blickt mich aus großen Augen an. „Was hört ihr euch denn an?", mischt sich Alim ein, der gegenüber von Mislina sitzt. „Kopfkrieg", sagt Mislina, nachdem sie mein Handy in ihre rechte Hand nimmt und auf die Entsperrtaste drückt, um es aufleuchten zu lassen. Tief ausatmend lehnt sie anschließend ihren Kopf gegen die Fensterscheibe und blickt auf die Autos, die an uns vorbeifahren.

Als wir an der Uni ankommen, verabschieden Alim und ich uns stumm von Mislina und laufen in die Richtung des Hörsaals. „Fatih?", ertönt plötzlich ihre Stimme und hindert mich an meinem Vorhaben. „Ja?", ich zwinge mir ein Lächeln auf — obwohl mir wie immer beim Betreten der Uni nach Weinen zumute ist — denn in den letzten Monaten habe ich gemerkt, wie schnell Mislinas Verhalten von der Laune eines Menschen beeinflusst werden kann. Ich will sie nicht einschüchtern, nur weil ich gerade nicht Lächeln möchte.
„Ich weiß du arbeitest heute nach der Uni und hast danach vermutlich auch keine Lust mehr sozial zu werden", kurz grinst sie mich an und sofort verstehe ich das Unausgesprochene, was sie Grinsen lässt. „Ich bin auch normalerweise nicht der sozialste Mensch, das solltest du inzwischen wissen", spreche ich also ihre Gedanken laut aus und bringe sie zum kichern. Unwillkürlich ziehen sich auch meine Mundwinkel in die Höhe und ich lache kopfschüttelnd. „Bring mich nicht aus der Bahn", sie schließt für einen kurzen Augenblick die Augen, als müsse sie sich daran erinnern, was sie mir erzählen wollte. „Wir gehen heute Abend mit unserer Gruppe etwas essen, wenn du möchtest, kannst du dich uns gerne anschließen", sie zögert und doch schenkt sie mir ein Lächeln, das mich für einen Moment alles vergessen lässt — wie kann ein Mensch mit einer einzigen Mimik meine Welt auf den Kopf stellen? „Wer wird alles dabei sein?", erkundige ich mich und hebe eine Augenbraue in die Höhe. „Alle", sie zuckt grinsend mit den Achseln, worauf ich nur nicke.
Eigentlich bleibt mir nicht anderes übrig, als sie zu begleiten, denn ich kann sie schließlich nicht den hungrigen Wölfen zum Fraß werfen — wobei ich mir nicht sichern bin, wer genau zu dieser Kategorie gehört.
„Soll ich dich abholen kommen?", als meine Worte sie erreichen, erhellt sich ihre Miene binnen weniger Sekunden und ein glücklicher Ausdruck verteilt sich auf ihrem Gesicht. „Ach quatsch, dann musst du deine Strecke verlängern", sie schüttelt mit dem Kopf, doch inzwischen kenne ich sie so gut, dass ich weiß, wann sie etwas wirklich ernst meint. „Gut, ich bin dann um 18 Uhr bei dir", rufe ich über meine Schulter, ehe ich zu meinem Mitbewohner laufe, der grinsend vor dem Gebäude wartet, wo unsere Vorlesung stattfinden wird.

Bunter SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt