14. Reue

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FATIH

„Reue ist die unpünktlichste aller Tugenden: sie kommt immer zu spät."

Mit den Jungs verlasse ich nach der Vorlesung das Gebäude und sobald wir an der frischen Luft stehen, lasse ich meine Blicke über den Campus gleiten — ich will es mir nicht eingestehen, aber seitdem Mislina nun auch hier studiert, habe ich die Hoffnung sie täglich mehrmals zu sehen. Eine Kleingruppe vor der Mensa zieht meine Aufmerksamkeit auf sich, denn Mislina steht dort zwischen Suavi und Hafsa und erfüllt meine unausgesprochene Hoffnung. „Hatte Mislina heute morgen keinen Hoodie an?", spricht Alim die Frage aus, die mich seit einigen Augenblicken beschäftigt. „Ich bin gleich wieder zurück", murmele ich und laufe auf die Gruppe zu — eigentlich nur mit der Absicht Mislina meine Jacke zu geben, denn sie scheint etwas zu frösteln. Auf dem Weg zu ihr, sehe ich jedoch, wie sich mehrere Jungs nach ihr umdrehen und sowas wie »Hast du die kleine Blondine gesehen? Die ist ja mal richtig heiß« sagen. Ich muss mich beherrschen, um nicht jedem an den Hals zu springen, doch spüre ich, wie sich die Wut in mir anstaut.

„Hattest du heute morgen nicht einen Hoodie an?", fahre ich sie deswegen ungewollt an, sobald ich zwei Schritte hinter ihr stehe. Überrascht zuckt sie auf, tritt einen großen Schritt zurück und schließt somit die Lücke zwischen uns. Verloren blickt sie über ihre Schulter in meine Augen und wenn ich meine Wut zügeln könnte, würde ich ohne Zweifel über ihre Art lachen, denn sie ist vollkommen neben der Spur. Auch jetzt muss ich mich zusammenreißen, um nicht wie ein Trottel zu grinsen. „Wo ist dein Hoodie hin?", frage ich aber stattdessen. Mit großen Augen schaut mir das Goldlöckchen ins Gesicht und scheint von mir eingeschüchtert zu sein, weswegen ich es nicht lassen kann, mich innerlich zu verfluchen. „Den habe ich vorhin Aminata gegeben, weil ihr jemand Kaffee über den Pulli geschüttet hat", sie scheint überfordert zu sein, während sie sich erklärt und als ich für einen kleinen Augenblick zu ihrer Freundin schaue, sehe ich auch den hellblauen Hoodie an ihr.

„Studiert die Kleine nicht Sonderpädagogik?", höre ich im Hintergrund eine Männerstimme sagen, weswegen ich meinen Blick von Aminata abwende und in die Richtung schaue, wo die Stimme herkommt. „Ja, die ist verdammt süß. Aber vergiss es, an die kommst du nicht ran", sagt der andere Junge, der Mislina lange mustert. Mit zusammengebissenen Zähnen lege ich ihr meine Jacke um die Schultern. Dabei bin ich zu grob — das ist mir bewusst — und auch habe ich vergessen, weswegen ich zu ihr gekommen bin. „Du ziehst Aufmerksamkeit auf dich", spreche ich ihr zu und versuche mich ein wenig zu beruhigen. Doch nun wird Mislinas Miene streng und sie schaut mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Ich will mich ihr erklären, will sie aufklären, wieso ich so eifersüchtig handle, doch es erscheint mir falsch — denn es gibt keinen logischen Grund für meine Eifersucht.

„Du siehst nicht aufreizend aus, es ist nur so, dass du ein schönes Mädchen bist — da schaut jeder hin", sage ich etwas unüberlegt und würde mir am liebsten für meine Worte eine scheuern. „Lass mich los", murmelt Mislina plötzlich, schweift sich meine Jacke ab und entfernt sich mit schnellen Schritten von mir und der Gruppe. Wie angewurzelt bleibe ich an der gleichen Stelle stehen und löse mich erst dann aus meiner Starre, als mich Nasir leicht anstupst. Sofort drehe ich mich um und sehe, wie sich der blonde Schopf von Mislina schon fast aus meinem Sichtfeld bewegt hat. Ich eile ihr hinterher und kann sie erst kurz vor der Haltestelle erreichen.

„Mislina", spreche ich ihren Namen aus, nachdem ich nach ihrem Unterarm greife und sie sich widerwillig umdreht, „Ich habe es nicht schlecht gemeint. Ich — es — ich wurde einfach wütend, als ich die Blicke auf dir bemerkt habe. Dein Vater, dein Bruder, Azad Abi, alle haben dich doch mir anvertraut, ich muss dich doch beschützen."

Mir ist bewusst, dass ich immer wieder auf dieses Beschützen zurückgreife, wenn ich meine Eifersucht nicht erklären kann, doch hat es sich bisher nie so falsch angefühlt, wie jetzt. „Lass mich los, Fatih", sie versucht mir ihren Arm zu entreißen, doch das kann ich nicht zulassen — sie darf nicht wütend auf mich sein, darf mir nicht ihren Rücken kehren. „Nicht, wenn du so wütend auf mich bist", spreche ich also meine Gedanken aus und lächele sie leicht an.
„Es ist ja schön und gut, dass du deine Aufgabe so ernst nimmst, aber lass mich in Frieden. Ich verstehe dich nicht! Mal bist du total herzlich und kümmerst dich um mich, und dann zeigst du mir binnen weniger Sekunden die kalte Schulter. Werde dir erstmal klar über deine Gefühle und danach kannst du mich — wie sagst du so schön — beschützen", mit einem Mal wird mir klar, worauf Mislina hinauswill, was sie an meinem Verhalten stört und was sie von mir erwartet. Statt mich meinen Gefühlen hinzugeben, die sie scheinbar auch erwidert, verstecke ich mich hinter meinem Pokerface.

Bunter SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt