23. Entschluss

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MISLINA

„If you truly love someone, then the only thing you want for them is to be happy, even if it's not with you."

„Hallo, Frau Ünal", ein Mann mittleren Alters begrüßt mich freundlich. Er ist einer der Onkologen, die mich behandeln werden. Ich zwinge mich zu einem Lächeln und nicke ihm lediglich zu. „Nehmen Sie doch Platz", er deutet auf die Stühle vor seinem Schreibtisch und ich laufe unsicher dahin — ich möchte dieses Gespräch so schnell wie möglich hinter mich bringen. „Wie geht es Ihnen?", fragt Herr Kaufmann und sieht mich prüfend an. „Ich habe die Information inzwischen mehr oder weniger verarbeitet", ich seufze kurz auf und lasse meinen Blick durch den Raum gleiten. Hinter seinem Schreibtisch ist ein großes Fenster, von dem man auf den Innenhof des Robert-Bosch-Krankenhauses schauen kann. Als meine Mutter mich vor 19 Jahren hier auf die Welt gebracht hat, hat sie vermutlich nichtmal im geringsten daran gedacht, dass ich eines Tages hier behandelt werden muss, wegen einer Krankheit, die unbehandelt zum Tod führen würde. „Ich würde — wenn Sie einverstanden sind — das Gespräch, das sie in Hannover geführt haben, erfrischen", über seine vorsichtige Art mit mir zu sprechen, muss ich lächeln und nicke lediglich.

„Vorab um Sie nicht zu erschrecken: in der ersten Phase Ihrer Behandlung, das heißt sobald wir mit der Chemotherapie anfangen, werden Sie von einer Reihe von Ärzten betreut. Das dient dem Austausch unter uns Kollegen, um Ihnen die bestmögliche Behandlung zu gewährleisten. Ich würde Ihnen ans Herz legen einen oder eine von ihnen auszusuchen und als Ansprechpartner anzusehen. Der Kollege oder die Kollegin wird Ihnen bei allem beistehen, Ihre Fragen beantworten, ein offenes Ohr für Sie haben", er schenkt mir ein friedliches Lächeln, das ich unwillkürlich erwidere. Seine Ruhe, die Sprechweise und auch seine Ausstrahlung nehmen mir — wenn auch nur minimal — meine Ängste, geben mir Hoffnung.

„Bei Fragen können Sie mich jederzeit unterbrechen", ich nicke über seinen kurzen Einwand, ehe er anfängt mir etwas über die Therapie zu erzählen. „Im Zentrum der Behandlung einer akuten lymphatischen Leukämie, wie es bei Ihnen der Fall ist, steht eine intensive Chemotherapie, dessen Ziel es ist alle Leukämiezellen zu zerstören und somit die normale, gesunde Blutbildung wiederherzustellen. Man unterteilt die Therapie grob in drei Phasen. In der ersten Phase, der Vorphasentherapie, versuchen wir die Zerstörung der Leukämiezellen einzuleiten, ohne Ihnen zu schaden. Hier werden die bösartigen Blutzellen nur langsam und in überschaubarer Menge abgetötet, da der Körper zu stark belastet wäre, wenn wir direkt mit einer starken Therapie anfangen würden. In dieser fünftägigen Therapie, bei der Steroide eingesetzt werden, müssen Sie bereits stationär aufgenommen werden. In der zweiten Phase, der Induktionsphase, werden wir versuchen die Leukämiezellen möglichst schnell zurückzudrängen. Das ist der intensive Part der Therapie. Das Medikamentengemisch unterdrückt die normale Blutbildung im Knochenmark, weswegen ihr körpereigenes Abwehrsystem deutlich geschwächt wird. In der Regel dauert die Induktionsphase sieben Wochen, auch hier müssen wir Sie im Krankenhaus behalten", er legt eine Pause ein, damit ich alles verinnerlichen kann.

Das sind schon insgesamt zwei Monate, in denen ich im Krankenhaus sein werde. Ich spüre wie mir die Tränen in die Augen steigen.
Vielleicht war es doch eine schlechte Idee ohne Begleitung in die Besprechung zu kommen, denn eine starke Schulter zum Anlehnen wäre in diesem Moment genau das, was ich benötige.
Ich nehme nur schleierhaft wahr, dass der Arzt sich von seinem Stuhl erhebt und als plötzlich der Stuhl neben mir zurechtgerückt wird, realisiere ich, dass er sich zu mir gesetzt hat. Er nimmt mich in die Arme und streicht mir vorsichtig über den Rücken. „Es wird alles besser werden, Frau Ünal", höre ich ihn sagen, während ich es über mich ergehen lasse, dass mich der Arzt tröstet.

Ich weiß nicht genau wie lange wir einfach nur dasitzen und ich mich trösten lasse. „Nehmen Sie Sich alle Zeit der Welt, Frau Ünal. Wir haben es nicht eilig", sagt Herr Kaufmann irgendwann und als ich zu ihm aufblicke, schenkt er mir ein Lächeln. Ich nicke, fahre mir mit den Handrücken über die Wangen, um die salzigen Tränenspuren loszuwerden und setze mich aufrecht hin. „Ich wäre soweit", versuche ich sicher zu sagen, doch macht meine Stimme bei dem Theater nicht mit. Herr Kaufmann nickt, erhebt sich von dem Stuhl und läuft zu der kleinen Kommode neben der Tür, auf der Gläser und Flaschen stehen. Mit zwei Gläsern Wasser läuft er zurück zu seinem Platz und reicht mir eines davon. Ich nehme ihm dankend das Glas ab und setze es gleich an meine Lippen.

Bunter SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt