31. Neuer Lebensabschnitt

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MISLINA

"And I'd choose you; in a hundred lifetimes, in a hundred worlds, in any version of reality, I'd find you and I'd choose you."

Kiersten White

Zögernd schaue ich mich ein letztes Mal in meinem Zimmer um. Es ist noch komplett eingerichtet und ich weiß, dass meine Eltern daran nicht viel verändern werden. Ich genieße den kurzen Moment der Einsamkeit — gleich wird sich das Zimmer wieder füllen, ich werde mich von meiner Familie, meinem Elternhaus verabschieden, werde mit Fatih einen neuen Lebensabschnitt beginnen.
Das leichte Klopfen an meiner Zimmertür lässt mich für einen kurzen Moment inne halten, ehe ich die Person reinbitte. Mein einsamer Moment hatte wirklich nicht lange gehalten.
„Mislina?", mein Bruder steckt seinen Kopf durch den Türspalt und lächelt mich leicht an, „Darf ich reinkommen?" Stumm nicke ich und zwinge mich dazu sein Lächeln zu erwidern. Er kommt auf mich zu, nimmt neben mir auf meinem Bett Platz und legt den Arm um mich. „Unglaublich, dass wir heute deine Hochzeit feiern werden. Du bist doch noch viel zu jung zum Heiraten", er blickt mich von der Seite an, weswegen ich meinen Kopf zu ihm drehe. „Ja, vielleicht. Aber für euch werde ich immer zu jung zum heiraten bleiben", ich grinse leicht, atme tief durch und schließe die Augen. „Meine Zweifel und Ängste versuchen mich seit Wochen einzunehmen. Denkst du ich mache das Richtige?", ich entferne mich leicht von ihm und hebe den Kopf an, um an die Decke zu schauen.

An meinen persönlichen Sternenhimmel.

„Ich hoffe es, denn ich könnte nicht damit leben, dass du unglücklich bist", mit einem Ruck zieht mich mein Bruder mit sich aufs Bett, sodass wir dort liegen und an die Decke starren. „Verraten dir die Sterne, was ich tun soll?", flüstere ich und spiele unsere Kindheit an.

In jeder aussichtslosen Situation waren wir mit meinen Geschwistern Nachts in den Garten gegangen, um uns den Sternenhimmel anzusehen. Okan Abi hat immer behauptet, dass die Sterne mit ihm sprechen und ihm den richtigen Weg erleuchten würden. Als Kind blieb mir nichts anderes übrig als ihm zu glauben und nun würde ich mir nichts anderes wünschen, als dass er diese Fähigkeit tatsächlich besäße.

„Weißt du noch, als wir deine Decke gestrichen und nach deinen Wünschen bemalt haben?", lenkt er vom Thema ab und lässt mich unwillkürlich lächeln.

Mein zehnter Geburtstag. Mein Geburtstagsgeschenk. Mein eigener Sternenhimmel.

„Als wenn's gestern wäre", murmele ich und kuschele mich an seine Brust. Ich habe zwar Angst, dass meine Schminke verschmiert, dass ich sein Hemd dreckig mache, doch ist es mir für diesen wunderschönen, friedlichen Moment wert. „Ich kann mich an deine Geburt erinnern, als wenn's gestern wäre. Du bist so schnell groß geworden —  nein, wir alle sind so schnell groß geworden. Jetzt habe ich selbst zwei Töchter und weiß, dass irgendwann die Zeit kommen wird, wo auch sie ihr Elternhaus verlassen werden. Eigentlich wissen wir alle, dass irgendwann die Zeit kommen wird, wo wir unsere Familie verlassen, um eine eigene zu gründen. Nur verdrängen wir den Gedanken, bis es dann tatsächlich so weit ist und wir total überfordert mit der Situation sind. Ich verstehe deine Ängste, verstehe deine Zweifel. Wirklich! Ich habe auch oft genug an mir selbst gezweifelt, bevor ich geheiratet habe und glaub mir, ich tue es noch immer. Ich habe  manchmal das Gefühl, dass ich meinen Pflichten als Ehemann und Vater nicht gerecht werde. Aber wenn du Verâ fragst, wird sie dir sagen, dass sie sich keinen anderen als mich an ihre Seite wünschen würde", er atmet tief durch und streicht mir leicht über die Wange. „Genau so geht es auch Fatih, das weiß ich. Er wünscht sich niemanden sehnlicher an seine Seite, als dich. Und weißt du was? Er ist vermutlich das Beste, was dir passieren konnte. Ja, ihr hattet eure Höhen und Tiefen. Ja, er war in der Vergangenheit verdammt verletzend. Aber er ist dennoch so zuvorkommend, so rücksichtsvoll und so verliebt in dich. Ich wünsche euch beiden wirklich nur das allerbeste!", er drückt mir einen Kuss auf den Schleier. „Jetzt sollten wir uns langsam wieder aufsetzen. Sie müssten jederzeit kommen", sagt mein Bruder und atmet tief durch.

Mit der Ankunft von Fatih und seiner Familie beginnt meine Verabschiedungszeremonie. Meine Familie hat sich hierfür in meinem Zimmer versammelt und jeder schaut wie gebannt zu meinem Bruder, der mir das traditionelle rote Band drei Mal um die Taille führt und letztendlich einen Knoten macht. Ich versuche meine Tränen zurückzuhalten, beiße die Zähne so fest wie möglich zusammen, doch brennen meine Sicherungen durch, als ich die Tränen meines Bruders erblicke. „Güzelim (meine Schöne)", flüstert er, legt die Hände auf meine Wangen und zieht mich zu sich, um mich in eine Umarmung zu schließen. „Ich bin unglaublich stolz auf dich und werde es immer sein. Vergiss bitte nicht, dass ich immer da bin. Jederzeit für dich erreichbar. Ich würde alles für dich tun. Hörst du? Alles!", mit dem Ende seiner Worte drückt er mir einen Kuss auf die Stirn, streicht über meine Wangen, um die Tränen wegzuwischen und lächelt mich an. Unter Tränen erwidere ich seine Geste, nicke und dieses Mal ziehe ich ihn in eine Umarmung.

„Ich liebe dein Verhältnis zu deinem Bruder", flüstert Fatih als wir im Auto sitzen und Richtung Kassel fahren, wo unsere Hochzeitsfeier stattfinden wird. „Und ich liebe dein Verhältnis zu all deinen Geschwistern", ich lege den Kopf auf seiner Schulter ab und schaue zu Selim Abi, der unser Hochzeitsauto fährt. Die Hand meiner Schwester liegt auf seiner rechten Hand, die auf dem Schaltknüppel liegt und automatisch bildet sich ein breites Lächeln auf meinem Gesicht.

„Wir haben es geschafft", murmelt Fatih, sobald wir in seinem Auto sitzen und zu dem Hotel fahren, in dem wir unsere heutige Nacht verbringen werden. „Ich wusste nicht, dass das Heiraten so anstrengend ist", ich lasse meinen Nacken knacken und schaue auf die dunklen Straßen, durch die wir fahren. „Wir haben uns eine ordentliche Portion Schlaf verdient", spricht Fatih und gähnt anschließend demonstrativ. Lachend blicke ich zu ihm. Meinem Ehemann.

„Ich kann dir nicht sagen, wie glücklich ich bin, dass du mein Ehemann bist", ich lege vorsichtig meine Hand auf Fatihs Wange. Mich packt die Angst, dass ich ihn damit ablenken könnte, doch lässt er sich nicht von meiner Berührung beirren. Seine Blicke sind starr auf die Straße gerichtet, während sich seine rechte Hand vom Lenkrad löst und zu meiner Hand wandert, die er sanft umfasst. „Ich liebe dich", flüstert er, haucht einen Kuss in meine Handinnenfläche und lässt meine Hand anschließend los, um das Lenkrad erneut mit beiden Händen zu umfassen.

Wir laufen mit verschränkten Händen durch die Lobby, grüßen den Mitarbeiter an der Rezeption und steuern schließlich den Fahrstuhl an. Ich seufze erleichtert auf, als wir in dem Zimmer stehen, das Fatih für heute reserviert hat. Ich höre die Tür ins Schloss fallen und drehe mich zu Fatih um, der seinen Blick auf mich gerichtet hat. Ich lächle zögernd und warte darauf, dass er die Lücke zwischen uns schließt. Als wolle er meinen Anblick für immer abspeichern, durchdringen mich seine Blicke und machen mich nervös, doch die Faszination in seinem Blick schmeichelt mir. Ich habe heute von so vielen Leuten gehört, wie schön ich aussehe, doch Fatihs Blicke sprechen mehr als tausend Worte. „Danke", flüstere ich, bedanke mich für seine wortlosen Komplimente und atme tief durch. „Ich kann es nicht glauben, dass ich dich tatsächlich geheiratet habe", Fatih lächelt leicht, als er einen Fuß vor den anderen setzt und auf mich zukommt. Sobald er vor mir zum Stehen kommt, legen sich seine Hände auf meinen Wangen ab, während seine Blicke auf meine Augen gerichtet sind. Lächelnd beobachte ich ihn dabei, wie er mein Gesicht inspiziert und letztendlich an meinen Lippen hängen bleibt. Vorsichtig beugt er sich vor und wie von selbst wandern meine Blicke zu seinen Lippen, die nur noch wenige Zentimeter über meinen schweben. Sein Zögern hängt mit der Rücksicht vor meinen Gefühlen zusammen, das weiß ich, weswegen ich lediglich nicke und darauf warte, dass sich unsere Lippen berühren.

Dieses Mal ist es ein etwas kürzeres Kapitel, es tut mir leid. Aber dafür wird das nächste länger sein und auch das letzte Kapitel zu der Geschichte. Anschließend werden 10 Bonuskapitel folgen.

Ich hoffe ihr hattet Spaß beim Lesen,
Eure Beyza 🎈

Bunter SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt