FATIH
"You have a place in my heart no one else ever could have."
F. Scott Fitzgerald
„Hat er abgenommen oder täuschen mich meine Augen?", höre ich Mislina fragen und hebe augenblicklich meine — auf meine Lernsachen gesenkten — Blicke, um sie zu mustern. Sie sitzt mit Malik am anderen Ende des Tisches und hat ihre Lernsachen aufeinander gestapelt. Ihre Stimme ist noch immer — seit vier verdammten Wochen — angeschlagen und irgendwie wird sie die Erkältung, die sie sich kurz vor der Klausurphase eingeholt hat, auch nicht los. „Ja, das ist bei ihm in jeder Klausurphase der Fall. Er isst kaum was", antwortet ihr plötzlich Alim beiläufig und verrät mich somit, sodass mich Mislina und Malik kritisch mustern. „Denkst du ich könnte ihn zum Essen zwingen?", sie legt den Kopf schief und versucht abzuwägen, wie sinnvoll der Plan ist, der ihr durch den Kopf geht. Dabei scheint weder ihr noch Malik aufzufallen, dass meine ganze Aufmerksamkeit nun ihrem Gespräch gilt. „Du könntest ihm sogar einen Sprung vor einen Zug schönreden", Maliks Mundwinkel zucken amüsiert in die Höhe und tatsächlich muss ich meinem Mitbewohner recht geben. „Sagst du den Jungs Bescheid, dass wir ab morgen bei euch in der Wohnung lernen?", sie packt ihre Sachen in ihren Rucksack ein und schultert diesen keinen Augenblick später. Bestätigend nickt er und blättert in seinem Block herum, bis er zufrieden lächelnd eine Seite aufklappt.
„Ich bin hundemüde, deswegen gehe ich schon. Euch noch viel Erfolg und Kraft beim Lernen", winkt sie Alim, Yasir und mir zu. Die Jungs verabschieden sich mit einem stummen Kopfnicken, doch ich erhebe mich von meinem Stuhl und beabsichtige sie zur Haltestelle zu begleiten. Als sie meinen Plan durchschaut, schenkt sie mir ein freudiges Lächeln und gemeinsam verlassen wir stillschweigend erst den Gruppenarbeitsraum der Bibliothek, in dem wir schon fast hausen, und anschließend das Gebäude.„Ich mache mir sorgen um dich. Du hast dich seit vier Wochen nicht von der Erkältung erholt. Vielleicht solltest du wirklich zum Arzt gehen", seufze ich, sobald wir endlich reden können, ohne jemanden zu stören. „Mache ich vielleicht, nach meiner Klausur nächste Woche", lächelt sie sanft und streicht sich eine lose Haarsträhne hinters Ohr. Sie hat das Glück nächste Woche mit ihren Klausuren durch zu sein, aber bis zum Ende der Semesterferien muss sie noch zwei Hausarbeiten abgeben, weswegen sie noch so lange in Hannover bleiben wird, bis meine letzte Klausur — eine Woche nach ihrer — ansteht.
„Wie viel hast du abgenommen?", fragt sie kurz zögernd, weswegen ich leicht schmunzle. „Keine Ahnung, ich schätze um die fünf Kilo? Die kriege ich aber locker wieder drauf, sobald ich nach der Klausurphase meinen normalen Essgewohnheiten zurückbekomme", ich zucke leicht mit den Schultern und lasse meine Blicke nicht wirklich unauffällig über Mislinas Gesicht gleiten.
Es scheint nämlich von Tag zu Tag blasser zu werden, als ohnehin schon. Tiefe, dunkle Augenringe unterstreichen ihre Müdigkeit und unwillkürlich lege ich meine Hand auf ihr Gesicht, um die dunklen Schatten unter ihren Augen mit meinem Daumen nachzufahren.
Als ich bemerke, dass sie die Augen schließt und ihre Wange an meine Hand schmiegt, wird mir überhaupt der Ausmaß ihrer Müdigkeit bewusst, weswegen ich froh bin, als ihre Bahn einfährt und wir uns verabschieden — damit sie sich erholt und einige Portionen Schlaf abbekommt. „Bis morgen", flüstert sie, streicht eine lose Strähne ihrer goldenen Locken hinter ihr Ohr, läuft die wenigen Schritte auf die Bahn zu und steigt ein, ohne dass ich ihr antworten kann. Stumm winke ich ihr zu, als die Bahn weiterfährt und setze mich in Bewegung, um mich erneut zu meinen Freunden zu gesellen.Tage verstreichen. Seit einer Woche versammeln sich Mislina und unsere Freunde bei uns in der Wohnung. Wir lernen, essen gemeinsam, machen kurze Pausen und motivieren uns schließlich immer wieder zum Weiterlernen. Morgen ist Mislinas letzte Klausur, übermorgen meine nächste. Wir sind beide — soweit ich das einschätzen kann — gut vorbereitet.
DU LIEST GERADE
Bunter Schatten
Teen Fiction„She found the colors to paint him where the world had left him gray." - Atticus „Zufall, dass alle deine Instagram-Bilder schwarz-weiß sind, nur das mit mir in Farbe?", liest Fatih Mislinas Nachricht und muss sein Grinsen unterdrücken. „Wie oft sol...