26. Neue Frisur

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FATIH

„Es dauert zehnmal so lange sich wieder zusammen zu fügen, wie es dauert zu zerbrechen."

Finnick aus Die Tribute von Panem

Ich starre geradewegs in mein Spiegelbild, das sich binnen weniger Minuten verändern wird. Nach dem gestrigen Anruf von Mislina konnte ich die Nacht kaum schlafen, denn auch wenn zwischen uns eine Trennung steht, werde ich — so gut wie es nunmal in unserer Situation geht — Mislina beistehen. Dass ich deswegen gerade beim Friseur sitze und meinen alten Schulfreund dazu überrede mir die Haare zu schneiden, ist aus diesem Grund völlig selbstverständlich. „Bist du dir auch wirklich sicher?", fragt Alper ein letztes Mal und fährt mir durch die Haare — er hat viel Zeit in sie investiert und deshalb verstehe ich sein Zögern. Nach meinem zustimmenden Nicken seufzt er tief, schaltet den Haarschneider an und kürzt meine Haare auf einen Millimeter. Anschließend rasiert er mir eine Glatze, sodass ich zufrieden lächeln kann.
Ohne zu zögern ziehe ich mein Handy aus meiner Hosentasche heraus und mache ein Spiegelselfie, um es Mislina zu schicken — auch wenn ich mir sicher bin, dass ich keine Antwort erhalten werde.

„Ich danke dir", ich wende mich zu Alper, nachdem er fertig ist, und umarme ihn brüderlich. „Nicht dafür! Ich hoffe, dass deine Verlobte schnellstmöglich gesund wird", er schenkt mir ein aufrichtiges Lächeln, wofür ich ihm dankbar bin.

„Fatih?", höre ich meinen Bruder nach mir rufen, als ich das Haus betrete. Es ist noch sehr früh — Alper hat mich vor seinen offiziellen Öffnungszeiten zum Barbershop gerufen, damit wir auch ungestört sind —, sodass ich wieder zurück bin, bevor Mirza zur Arbeit muss. „Ja, ich bin's", ich laufe in die Küche, wo die Stimme herkommt und setze mich — nachdem ich mir einen Kaffee gemacht habe — zu ihm an den Esstisch, um mit ihm zu frühstücken, ehe er in wenigen Minuten losfährt. Lange ruhen Mirzas Blicke auf meinem kahlen Kopf, er schafft es nicht den Blick von mir zu reißen, geschweige denn sein Frühstück fortzuführen. Doch irgendwann, da realisiert er vermutlich wie wichtig mir dieser Schritt ist, weswegen er mir ein Lächeln schenkt und nach dem Brötchen greift, das er vorhin belegt hat.
„Die Zwillinge wollen am Abend etwas mit uns unternehmen", ist das erste, was er sagt, nachdem er einen großen Schluck von seinem Kaffee nimmt. „Gerne", ich nicke zustimmend und greife ebenfalls nach meiner Kaffeetasse. Etwas Ablenkung und gemeinsame Zeit mit meinen Brüdern vor meiner Rückfahrt nach Hannover ist nämlich genau das, was ich brauche. „Gut, dann sehen wir uns am Abend in dem Café, von dem ich dir die Adresse nachher schicke", er lächelt schief, bevor er sich von dem Küchenstuhl erhebt und nach seinem Teller greift. „Lass liegen, ich mache das gleich", ich nehme den letzten Schluck von meinem Kaffee und erhebe mich ebenfalls.

Nach Feierabend der Jungs sitzen wir also in einem Café und alle drei versuchen mich abzulenken und aufzuheitern, dabei ignoriert jeder die Tatsache, dass ich über Nacht entschieden habe, meine Haare zu kürzen.
Auch ich hatte — um ehrlich zu sein — viele Jahre in diese Haare gesteckt, damit sie so aussahen, wie heute morgen noch. Ich habe keinen anderen Friseur an meine Haare gelassen, als Alper, damit auch alles so wird, wie wir es uns vorgestellt hatten. Deswegen müssten sie es — unter normalen Umständen — hinterfragen, müssten mich mit Fragen durchlöchern, doch befinden wir uns nicht in normalen Umständen.

Schnell erfahre ich, dass sich dieses Café zum Stammlokal meiner Brüder entwickelt hat, nachdem Zümra und ich weggezogen sind. Ich realisiere, dass ich mir mit meinem Umzug keinen wirklichen Gefallen getan habe, denn ohne es bewusst getan zu haben, habe ich eine gewisse Distanz zwischen meine Brüder und mich gebracht. Mit einem Mal überkommt mich ein schlechtes Gewissen und ich finde es kindisch und unüberlegt die Stadt verlassen zu haben, in der meine Familie lebt — obwohl mir Hannover in den letzten Jahren so gut getan hat.

Bunter SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt