Bonuskapitel 4 - Rabia

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Heimweh

RABIA

„She knew she loved him when 'home' went from being a place to being a person."

E. Leventhal

Während ich erschöpft mein Mathebuch zuklappe, lasse ich gleichzeitig meinen Nacken knacksen. Die Abiturvorbereitungen nehmen meine ganze Kraft in Anspruch und die bevorstehenden Prüfungen, die in zwei Wochen beginnen, machen mir Stress. Hilflos blicke ich auf das Bild, das die Wand über meinem Schreibtisch ziert — es ist ein Foto von der Verlobung meines Bruders, das unsere Großfamilie zeigt. Ich starre geradewegs in das grinsende Gesicht von Zeyd — sein Grübchen ist hinter seinem Bart versteckt und doch erkenne ich die kleine Einbuchtung sehr genau. Automatisch komme ich zur Ruhe und ein friedliches Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus. Zeyd...

Als mein Handy zu klingeln beginnt, reiße ich meine Blicke von meiner großen Liebe los und suche unter meinen Unterlagen nach dem Störenfried. „Abi kommt dieses Wochenende wieder nicht", höre ich meine beste Freundin in den Hörer seufzen, noch bevor sie mich begrüßt und muss die aufkommenden Tränen unterdrücken. Zeyd ist — neben meiner Schwester — der einzige unter uns, der zum Studieren weggezogen ist. Seit drei Semestern studiert er nun in Ravensburg und es ist das dritte Mal infolge, dass er alle zwei Wochen nach Stuttgart kommt, obwohl sein Stundenplan es zulassen würde, dass er seine Familie an jedem Wochenende besucht. „Weißt du wieso?", erkundige ich mich und erhebe mich aus dem Stuhl, um mich in mein Bett zu legen. Sobald ich unter meiner Decke liege, ziehe ich meine Knie an und mache mich so klein, wie nur möglich. „Er muss wohl lernen", ich spüre schon fast, dass sie die Augen verdreht und muss mir kurz ein Lachen unterdrücken. Die Tatsache, dass Zeyd vor etwas flüchtet, liegt eigentlich auf der Hand — er würde normalerweise das Lernen nie als Ausrede benutzen. Nur ist die Frage wovor er flüchtet. „Ich habe mir überlegt, dass wir spontan zu ihm fahren könnten — dann kann er uns die Stadt zeigen, in der er lebt. Wir haben ihn bisher noch nie dort besucht. Und vielleicht können wir — beziehungsweise du — ihn dazu bringen doch mit nach Stuttgart zu kommen. Er könnte dir niemals einen Gefallen abschlagen", über Efsanes Worte muss ich laut seufzen — ob das wohl eine gute Idee wäre? Vor allem dann, wenn ich seit einiger Zeit daran arbeite etwas Distanz zwischen uns zu bringen. Eine Distanz, um zumindest beim Lernen einen klaren Kopf haben zu können. „Vielleicht hat er ja keine Zeit, du solltest ihn anrufen und fragen, ob das passt", schlage ich vor, obwohl mir klar ist, wie dumm dieser Vorschlag ist. „Du tust so, als würdest du ihn nicht kennen", Efsane lacht leise, „falls wir uns ankündigen sollten, wird er alles dafür tun, damit wir nicht kommen." Erneut seufze ich auf, denn sie hat vollkommen recht. „Gut, ich mache mich schnell fertig und schaue nach der nächsten Bahnverbindung", ich setze mich auf und blicke kurz aus dem Fenster, um das Wetter einschätzen zu können. „Tamam Kürt güzeli (Okay, kurdische Schönheit)", Efsanes stimme lacht förmlich — sie ist froh ihren Willen durchgesetzt zu haben.

In Windeseile packe ich einige Sachen in meinen Rucksack, ziehe mir eine weite Jeans und ein ebenso weites T-Shirt an, das mir bis zur Mitte der Oberschenkel reicht. Es ist Zeyds Shirt, das ich ihm vor einem Jahr nur mit einem Wortgefecht entziehen konnte. Grinsend fahre ich über den Aufdruck auf dem Monkey D. Ruffy von One Piece zu sehen ist. Dass ich es gerade nur deswegen trage, um ihn zu necken, ist vermutlich nicht mehr nennenswert.

Zemer, wir müssen in 10 Minuten los", schreibe ich meiner besten Freundin und streife mir die lange Jeansjacke über, während ich die Treppen runterlaufe. An der Küchentür erblicke ich meinen Bruder, der Efsane und mich zum Bahnhof fahren wird. „Abi? Bist du fertig?", ich starre Ubeyd Abis breites Kreuz an, das mein gesamtes Sichtfeld einnimmt, sobald ich auf der letzten Treppenstufe stehe. „Ja", er lächelt mich über seine Schulter schauend an, läuft schließlich zur Haustür und verlässt das Haus, dicht gefolgt von mir.

Bunter SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt