8. Chaos

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FATIH

„I've put up my walls and I have turned off the lights. I am hiding. I crave for you to find me amongst the darkness. If you can do that you have found the real me."

Gareth Egan

„Danke nochmal, dass ich bei euch wohnen kann", Malik — Yasirs jüngerer Bruder — lächelt uns an. Wir haben gerade seine letzten Sachen in sein Zimmer geräumt und es somit bewohnbar gemacht. „Wir haben dich doch von Anfang an als Mitbewohner eingeplant du Schmock", grinst Alim den Afghanen an, dem man seine Dankbarkeit vom Gesicht ablesen kann. „Gehen wir noch zur Feier des Tages etwas trinken?", fragt Yasir und setzt sich zu uns auf die Couch. „Fatih kann heute doch nicht, du Fisch", antwortet Alim breit grinsend für mich und lässt mich lachend mit dem Kopf schütteln — es war sowas von klar, dass sie ein Hehl daraus machen. „Wieso nicht?", Malik zieht die Augenbrauen zusammen, während er mich beobachtet. „Er ist jetzt einer von uns, er muss es erfahren", Yasir blickt erst zu mir und anschließend zu seinem Bruder, „Seine große Liebe zieht heute nach Hannover, er muss sie willkommen heißen." Zwinkernd legt er seinem Bruder einen Arm um die Schulter und blickt süffisant zu mir — plötzlich scheint ihm doch eingefallen zu sein, dass Mislina heute in ihre WG einzieht.
„Erstens", will ich protestieren, doch werde ich von Alim unterbrochen. „Akhi, er ist nicht in sie verliebt, wie oft noch", er verdreht die Augen und verkneift sich noch gerade so sein Lachen, denn ich weiß, wie ernst er meine Worte nimmt, wenn ich ihm versuche zu erklären, dass ich Mislina nicht liebe — nämlich gar nicht.
„Fatih Abi, es tut mir leid, aber es scheint schon irgendwo zu stimmen, sonst würde es dich gar nicht interessieren, was die beiden Idioten von sich geben", Malik blickt zwischen unseren Mitbewohnern hin und her und kassiert von beiden jeweils einen Schlag gegen den Hinterkopf. „Nur um eins klarzustellen: ich fahre nur deswegen zu Mislinas Wohnung, weil ich meiner Schwester etwas vorbeibringen muss", ich wedele mit dem Buch, wonach mich meine Schwester gefragt hat, in der Luft, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen.
„Das Buch, natürlich", Yasir nickt zwar, doch merkt man ihm an, dass er meinen Worten kein Glauben schenkt. Ich greife nach der erstbesten Sache, die ich fassen kann — zu seinem Glück und meinem Pech ist es nur ein Kissen — und werfe es ihm geradewegs ins Gesicht. Im gleichen Moment klingelt mein Handy und grinsend nehme ich Zümras Anruf entgegen.

„Dilemîn? (Mein Herz; kurdischer Kosename)", spreche ich in den Hörer und bringe meine Schwester zum Kichern. „Wir sind jetzt fertig mit dem Einrichten und lernen Mislinas Mitbewohnerin kennen, kannst also jederzeit kommen", man hört die vielen Stimmen im Hintergrund, die sich lautstark unterhalten. „Wir sind auch gerade fertig geworden, ich rufe an, wenn ich da bin", ich erhebe mich von der Couch und verschwinde in meinem Zimmer. „Falls ich nachher nicht ans Handy gehen sollte, kannst du bei Çelik klingeln", ich ziehe die Augenbrauen zusammen, und habe eine leise Vermutung, dass es eher eine Ankündigung ist, als eine Alternative.

Nach einer kurzen aber sehr erholsamen Dusche, verlasse ich das Haus und fahre zu der Adresse, die mir Zümra geschickt hat — die Fahrt hat gerade mal fünf Minuten gedauert, was mich beruhigt, denn so weiß ich, dass ich wirklich nur einen Anruf von Mislina entfernt bin, falls ihr etwas passieren sollte.
Ich wähle Zümras Nummer und warte — während ich mit dem linken Zeigefinger zum Takt der Musik auf das Lenkrad klopfe — darauf, dass sie meinen Anruf entgegennimmt. Als ihre Mailbox ertönt, seufze ich leicht und greife nach dem Buch. Völlig unentschlossen setze ich einen Fuß vor den anderen und bewege mich zur Haustür.

„Du bist so eine Hexe", spreche ich meine Schwester an, sobald ich die Treppen zum dritten Stockwerk hochsteige — sie steht nämlich grinsend in der Tür und beobachtet mich. Das bestätigt nur meine These, dass sie genau das beabsichtigt hat. „Ich liebe dich auch Bruderherz", ihr Lachen ertönt im Treppenhaus und ihr erleichterter Eindruck deutet darauf, dass die Freude sie in letzter Zeit nicht heimgesucht hat. Sobald ich vor ihr zum Stehen komme, ziehe ich sie in eine innige Umarmung und inhaliere ihren Eigenduft, der mir Frieden schenkt. „Dayısının aslanı (Der Löwe seines Onkels)", ich gehe vor Zümra in die Hocke und streiche vorsichtig über ihren leicht gewölbten Bauch, „ich hoffe dir geht's auch gut kleiner Mann." Als ich hochblicke, erkenne ich Zümras tränengefüllten Augen, weswegen ich mich wieder aufstelle und ihr einen langen Kuss auf die Stirn drücke. „Danke", flüstert sie und legt ihren Kopf auf meiner Schulter ab. „Hier das Buch", ich lächle und lege es ihr in die Hand.

Bunter SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt