22. Leukämie

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FATIH

„It only takes a few seconds for a doctor to kill every dream and every plan."

„Guten Tag, Frau Ünal", der Arzt reicht Mislina lächelnd die Hand und wendet sich schließlich an meine Schwiegermutter und mich. Das ungute Gefühl in meiner Brust verstärkt sich alleine durch die Haltung und den Gesichtsausdruck des Arztes.
„Frau Ünal, Sie wissen, dass wir einige Untersuchungen gemacht haben, über deren Ergebnisse ich mit Ihnen reden muss", beginnt er zu sprechen, sobald wir auf den Stühlen vor seinem Schreibtisch sitzen. Ich spanne mich an, denn seine nächsten Worte sind entscheidend.
„Ihr Blutbild hat uns gezeigt, dass die Anzahl Ihrer Blutzellen verringert sind", allein diese eine Information reicht mir, um mich anzuspannen.

Blutarmut. Eines der Symptome für Blutkrebs.

„Sie weisen einen Mangel an roten Blutkörperchen und Blutplättchen auf. Außerdem liegen bei Ihnen zu viele unreife, nicht funktionsfähige Lymphozyten — also eine Unterform der weißen Blutkörperchen — vor",  Mislina nickt, um zu verdeutlichen, dass sie ihn versteht. An ihrem Blick und an der leicht zitternden Unterlippe erkenne ich, dass sie Angst vor den nächsten Worten des Arztes hat, doch mir geht es nicht anders. Und auch meine Schwiegermutter sitzt angespannt auf ihrem Stuhl und versucht ihre Fassung zu bewahren.
„Deswegen mussten wir weitere Untersuchungen einleiten. Die Untersuchung Ihres Knochenmarks hat uns unsere Vermutung leider bestätigt: wir haben bei Ihnen eine Form von Leukämie diagnostiziert. Die akute lymphatische Leukämie", auch wenn ich mir fast schon sicher war, dass Mislina unter Blutkrebs leidet, ist die Bestätigung seitens eines Arztes wie ein Fausthieb. Direkt in die Magengrube.
Unwillkürlich wandert meine Hand zu Mislinas und fest umschließe ich ihre zierliche Hand. Es ist die Hoffnung sie bei mir halten zu können, der mich zu diesem Handeln verleitet.
Als könnte sie mir nicht entgleiten, wenn ich ihre Hand nur fest genug halte.

Es dauert keine Minute bis ich realisiere, dass Mislina mit ihren Gedanken abschweift. Aus diesem Grund richte ich meine Blicke auf den Arzt, der eine kurze Redepause eingelegt hat, um uns etwas Zeit zum Realisieren zu geben. Ihm fällt schnell auf, dass die beiden Frauen nicht mehr auf seine Worte hören werden, sodass er zu mir schaut, als er meine Blicke auf sich spürt.
„Die akute lymphatische Leukämie ist eine rasch fortschreitende Krebserkrankung, weswegen wir so schnell wie möglich handeln müssen. Ich würde Ihnen ans Herz legen so schnell wie möglich mit der Chemo anzufangen, denn unbehandelt kann die Krankheit innerhalb kürzester Zeit zum Tod führen."
Mein Herzschlag setzt für einige Sekunden aus.

Tod. Das darf nicht passieren.

„Besprechen und überdenken Sie das mit- und untereinander nochmal in Ruhe", ich nicke. „Wir werden mit allen Mitteln versuchen den Krebs zu bekämpfen. Das wird eine harte Zeit, denn im Fokus der Behandlung steht die intensive Chemotherapie, die alle Leukämiezellen komplett zerstören und die normale Blutbildung wiederherstellen soll. Aufgrund der Intensität der Behandlung, muss die Therapie stationär ablaufen. Sie müssen sich in dieser Zeit auf Nebenwirkungen wie Erschöpfung, Übelkeit, Erbrechen, Schwindelgefühl und Gelenkschmerzen einstellen. Sie wird unter Appetitlosigkeit leiden und Ihr wird es besonders an Kraft fehlen. Mit einer hohen Wahrscheinlichkeit werden Ihre Haare ausfallen, da nicht nur Tumorzellen, sondern auch gesunde Körperzellen von den Medikamenten angegriffen und getötet werden — unter anderem auch die Zellen der Haarwurzeln", er legt eine Pause ein, in der ich meine Blicke auf Mislina richte. Sie starrt mir geradewegs in Gesicht, mustert mich und unwillkürlich ziehen sich meine Mundwinkel in die Höhe. Ein schmerzliches Lächeln.

„Ist es vielleicht möglich, dass sie die Chemo in Stuttgart anfängt? Sie kommt nämlich ursprünglich daher, ist nur zum Studium hergezogen", frage ich, sobald ich die Kraft dafür zusammengetrommelt habe und schaue erneut zum Arzt. „Selbstverständlich! Es wäre vielleicht sogar sinnvoller, denn in dieser Phase wird Sie Ihre Familie mehr brauchen als sonst. Ich kann Sie dort an eine Klinik weiterleiten, denn es ist sehr wichtig, dass die Behandlungen in Kliniken stattfinden, die auch die nötigen Erfahrungen mit sich bringen", ich nicke verstehend und greife nach der Broschüre und dem kleinen Heftchen, das er mir hinhält.

Bunter SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt