28. Farben

313 24 29
                                    

FATIH

"She found the colors to paint him where the world had left him gray."

Atticus

„Fatih?", überrascht blickt mein Schwager in mein tränenüberströmtes Gesicht und zieht mich im nächsten Moment in eine feste Umarmung. Vermutlich hatte er mit allem gerechnet als er mir die Tür aufgemacht hat, aber nicht damit, dass ich total verheult vor ihm stehe. Kraftlos lehne ich meinen Kopf an seine Schulter und atme hörbar aus. „Wie geht's unserem kleinen Engel?", fragt er und automatisch lächle ich bei dem Gedanken an Mislina. „Ihr geht's den Umständen entsprechend gut", ich atme ein letztes Mal tief ein und aus, ehe ich mich aus der Umarmung löse. Ich fahre mir kraftlos über die Wangen und wische die Tränen weg. „Aber halt nur den Umständen entsprechend", murmelt Azad Abi und bringt mich zum Nicken. „Wenn wir betrachten, dass du mehrere Stunden bei ihr warst, nehme ich an, dass ihr miteinander gesprochen habt", er schließt die Tür hinter mir und bleibt dennoch an Ort und Stelle stehen. Seine Geste, mein Wohlergehen zu erfragen, ohne zu unserer Familie zu stoßen, schmeichelt mir. „Ja, und sie hat mir versprochen, dass wir nun wieder in Kontakt bleiben werden", ich lächle unwillkürlich. Allein der Gedanke, dass ich Mislina theoretisch jederzeit anrufen kann oder ihr schreiben kann und nicht gegen ihre Mauern pralle, beruhigt mich. „Das ist doch schonmal ein guter Schritt in die richtige Richtung", er lächelt breit und legt mir eine Hand auf die Schulter. „Hoffentlich", nickend hänge ich meine Jacke an den Kleiderhaken und verschwinde im Bad, um mir erst meine Hände und anschließend das Gesicht zu waschen.

Sobald ich auch allen anderen Anwesenden die Neuigkeiten mitteile und sie über Mislinas Wohlergehen informiere, ziehe ich mich mit Hamza in den Armen zurück. Ich nehme — abseits von allen — auf einem der beiden Ohrensessel vor dem großen Bücherregal Platz, greife nach einem der Kinderbücher und lese meinem Neffen aus dem Buch vor. Sena, die unser Tun scheinbar beobachtet hat, eilt keine Minute später zu uns und versucht ebenfalls auf meinen Schoß zu klettern. „Tap! Tap!", sie deutet auf das Buch in meinen Händen, während sie ihre Abkürzung von dem türkischen Wort für Buch — kitap — vor sich hin murmelt. Lachend helfe ich ihr dabei sich auf meinen rechten Oberschenkel zu setzen, während Hamza auf dem anderen Bein sitzt. „Dann lesen wir mal", ich öffne das Buch so, dass beide einen perfekten Blick auf die Bilder haben. „Miau", ruft Sena irgendwann aus und deutet auf die Katze, die auf einer der Seiten abgebildet ist. „Ja, mein Engel. Das ist eine Katze", ich grinse leicht und schaue mich aus Reflex nach Bisasam um, der gerade zur Tür reinkommt. „Miau", Sena klatscht freudig in die Hände als auch ihr Blick zu dem Kater wandert. Murrend läuft dieser zu seiner Besitzerin und läuft um ihre Beine. Zümras Kehle entweicht ein Lachen, ehe sie nach ihrem Kater greift und ihn auf ihrem Schoß absetzt.

Der Nachrichtenton meines Handys lässt mich kurz darauf schauen. Es kündigt eine Nachricht von Mislina an. „Zufall, dass alle deine Instagram-Bilder schwarz-weiß sind, nur das mit mir in Farbe?", lese ich und muss mir ein Grinsen unterdrücken. Ich habe — bevor ich das Krankenhaus verlassen habe — das Bild von meinem Heiratsantrag auf Instagram gepostet, um quasi meinen engsten Kreis darüber zu informieren, dass wir nun dort weitermachen, wo wir aufgehört hatten.  „Wie oft soll ich dir das noch sagen, dass du diejenige bist, die meine Welt mit Farben füllt. Ohne dich ist alles in Grautönen, erst durch dich habe ich gelernt, was Farben sind und was sie bewirken", tippe ich meine Nachricht ein. „Tap!", ruft Sena irgendwann aus, sodass ich lachend das Handy weglege und mich nun auf das Fühlbuch konzentriere, aus dem ich Hamza und ihr vorlese.

***

Es vergehen weitere Monate. Zehn an der Zahl. Von Tag zu Tag verbessert sich Mislinas Zustand, was sich auch in ihren Blutwerten widerspiegelt. Ich kann aufgrund der Arbeit — nun bin ich als Berufseinsteiger im Volkswagen-Werk in Kassel eingestellt — nicht täglich bei ihr sein, doch telefonieren wir so oft wie es geht und versuchen unsere Beziehung aufrecht zu erhalten. Es ist erleichternd zu wissen, dass sie nun erneut in meinem Leben ist, ich ihr beistehen kann und über jede Entwicklung in ihrem Leben informiert werde. Die Wochenenden verbringe ich meistens in Stuttgart, um sie zumindest regelmäßig sehen zu können. Unter der Woche telefonieren wir, sobald ich Feierabend habe, und tauschen uns über den Tag aus.

Bunter SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt