Kapitel 19

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Innerhalb von ein paar Augenblicken hatten wir alles beisammen. Eilig öffnete ich den Verbandskasten und fand zum Glück gleich eine kleine Flasche Desinfektionsmittel. Das Messer, welches er mir gebracht hatte, war klein und scharf. Perfekt geeignet für meine Zwecke.
"Hier." Ich reichte Stephan das Messer und das Desinfektionsmittel. "Desinfizier das.", wies ich ihn an. "Und zieh dir Handschuhe an!", fügte ich hinzu, während ich selbst nach ein paar Handschuhen griff und diese anzog. Die Leute um uns herum beobachteten das Geschehen neugierig und redeten wild durcheinander, aber ich versuchte, mich davon nicht ablenken zu lassen.
Stephan reichte mir dann das mehr oder weniger sterile Messer. "Danke.", sagte ich. "Und jetzt mach mit dem Kugelschreiber genau das gleiche, aber schraub ihn auseinander. Ich brauche nur das vordere Gehäuse.", gab ich ihn weitere Anweisungen und fing an den Hals des Mannes nach der richtigen Stelle abzusuchen.
"Was hast du eigentlich vor, Elena?", wollte Stephan nun von mir wissen. "Ich rette diesem Mann hier das Leben.", antwortete ich selbstsicher. 'Hoffe ich jedenfalls.', fügte ich gedanklich hinzu.
"Ich weiß, dass du das schaffst!", sagte Stephan plötzlich und ich blickte ihm in die Augen.
Er meinte es wirklich ernst. Wahrscheinlich hatte er meine Aufregung bemerkt und wollte mich beruhigen, was ich ihm gerade wirklich hoch anrechnete. "Und egal was ist, ich bleibe genau neben dir.", versicherte er mir anschließend noch und ich rang mich zu einem kleinen Lächeln durch. "Ich danke dir.", antwortete ich und konnte das Zittern in meiner Stimme nicht unterdrücken.
Ich war Ärztin, ja. Aber noch nie war ich alleine in so einer Situation und komplett verantwortlich für einen Patienten gewesen. Ich hatte ja noch nicht mal meinen Facharzt und musste nun schauen, dass ich diesem Mann mit den einfachsten und mir zur Verfügung stehenden Mitteln das Leben rettete.
Ich atmete nochmal tief durch und wandte mich dann wieder an den Mann, dessen Zustand sich weiter rapide verschlechtert hatte. Ich musste handeln und zwar jetzt.
"Das einzige was ich hier für sie tun kann, ist ein Luftröhrenschnitt.", erklärte ich dem Patienten, der mich mit vor Angst geweiteten Augen ansah.
Ich versuchte das und die erschrockenen Stimmen um mich herum auszublenden, denn ich musste mich stark konzentrieren. "Haben sie das schon mal gemacht?!", ertönte plötzlich die Stimme eines Gastes, der das Geschehen neugierig beobachtete.
"Sicher!", erwiderte ich. "Mindestens schon tausend Mal!", fügte ich mit einem sarkastischen Unterton hinzu. "Schön wär's!", murmelte ich dann nur so laut, dass nur Stephan es hören konnte und er lachte auf.
Ich hingegen widmete mich wieder dem Hals des Patienten, um nochmal zu überprüfen, ob ich auch wirklich die richtige Stelle ertastet hatte. Mir durfte jetzt unter keinen Umständen ein Fehler unterlaufen.
Noch einmal atmete ich tief durch, um das Zittern in meinen Händen unter Kontrolle zu bringen. "Sie müssen jetzt ganz ruhig liegen bleiben.", erklärte ich dem Mann, der mich noch immer mit großen Augen ansah. "Das ist ganz wichtig.", fügte ich mit Nachdruck hinzu und ich merkte, wie er sich ein wenig entspannte. Ob 'entspannen' allerdings das richtige Wort für diese Situation war, glaubte ich definitiv nicht. Trotzdem war ich froh, als er nicht mehr so panisch zappelte. Das würde mir die Arbeit erleichtern.
Normalerweise lagen die Patienten, bei denen ein Luftröhrenschnitt durchgeführt werden musste, unter Narkose oder waren wenigstens anderweitig sediert. Das hier war ein Notfall und ich musste es ohne die sonst gegebenen Erleichterungen irgendwie hin bekommen. Ich vergewisserte mich nochmals, dass ich auch die richtige Stelle im Visier hatte und schließlich setzte ich den Schnitt am Hals des Mannes.
Es blutete leicht und ich hörte wie einige der Anwesenden erschrocken die Luft einzogen.
"Okay, das hätten wir.", murmelte ich. "Gib mir den Kugelschreiber.", bat ich nun Stephan, der wie verlangt das lange Röhrchen des Stifts desinfiziert hatte. "Hier." Stephan hielt mir den Kugelschreiber hin und ich nahm ihn an mich.
"Tupfer.", sagte ich dann, da ich aufgrund des Bluts zu wenig sah. Das Verlangte holte  Stephan sofort aus dem Verbandskasten und reichte es mir ebenfalls.
Ich säuberte die die Einschnittstelle notdürftig und steckte anschließend das Stück des Kugelschreibers in das nun vorhandene Loch im Hals des Hilfsbedürftigen.
Seine Atmung verbesserte sich hörbar, was ein Zeichen dafür war, dass ich alles richtig gemacht hatte. Nun konnte auch ich erstmal aufatmen.
„Hat es geklappt?“, fragte Stephan, der meine Reaktion wohl mitbekommen hatte. „Ich glaube schon.“, erwiderte ich und so langsam fiel die Aufregung von mir ab. „Also.. ihm geht es merklich besser.“, fügte ich hinzu, während ich die Vitalzeichen überprüfte. Sie normalisierten sich, jedenfalls soweit es der Zustand des Mannes zu ließ. Berauschend waren sie nach wie vor nicht, aber eindeutig viel besser als vor meinem Eingriff und das war schon mal viel wert.
Ich hatte diesem Mann wohl gerade tatsächlich das Leben gerettet, indem ich mich auf meinen Instinkt verlassen und nötige Maßnahmen eingeleitet hatte. Auch Stephan wirkte erleichtert. „Super gemacht!“, rief er und schloss mich in eine Umarmung. „Ich wusste, du schaffst das!“, flüsterte er mir ins Ohr und da wir uns so nah waren, stieg mir sofort dieser vertraute Geruch seines After-Shaves in die Nase. Außerdem spürte ich sein Herz klopfen, wahrscheinlich war es die Aufregung der vergangenen Minuten, die es so schnell schlagen ließ.
Jedoch begann auch mein Herz wieder schneller zu klopfen, jetzt als ich so in seinen Armen lag. Diese Geste war so überraschend gewesen, das ich mich gar nicht darauf hatte vorbereiten können und wehren war schon mal gleich gar nicht drin gewesen.
Aber alleine schon die Tatsache, dass uns alle anderen Anwesenden gerade wohl anstarren mussten, ließ mich diesen Impuls unterdrücken.
Wahrscheinlich wäre es noch komischer rüber gekommen, wenn ich Stephan von mir gestoßen hätte. Allein diese Situation, das er mich einfach so an sich gezogen hatte, musste auf viele hier schon befremdlich wirken. Immerhin wussten diese fremden Leute nicht, dass wir uns kannten.
‚Und das wir so etwas wie eine Beziehung geführt hatten, jedenfalls für ein paar wenige Tage.‘, dachte ich. ‚Oder was auch immer das sonst zwischen uns gewesen sein soll.‘. fügte ich noch hinzu.
Aber eigentlich wollte ich mich auch gar nicht dagegen wehren, da sich auf einmal wieder dieses seltsame Gefühl von Geborgenheit einstellte, das ich damals bei unserer ersten Begegnung und auch bei den darauf folgenden Begegnungen mit ihm verspürt hatte. Seltsam, ja. Jedoch war es gleichzeitig auch unsagbar schön und ich konnte es nicht lassen, meinen Blick hinauf zu seinem Gesicht und zu seinen Augen zu wenden. Auch Stephan schien etwas zu spüren, was wir allerdings auf keinen Fall die Oberhand gewinnen lassen durften.
Da war noch immer etwas zwischen uns. Eine starke Zuneigung füreinander, das konnte ich gerade nicht leugnen. Wir sahen uns für den Bruchteil einer Sekunde tief in die Augen und wer weiß wo das noch hingeführt hätte, wären wir unter uns gewesen.
„Da..Danke.“, stammelte ich und versuchte mich aus seiner Umarmung zu befreien. Nun merkte wohl auch Stephan, dass wir alles andere als alleine waren und das hier etwas passierte, was nicht passieren durfte. Niemals wieder.

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