Die Zeit verging, ohne dass Stephan zur Tür herein kam. Ich versuchte aber auch nicht, ihn anzurufen, denn das würde in meinen Augen nur armselig wirken. Ich vertrieb mir so wie die letzten Tage auch die Langeweile damit, indem ich mir Videos auf dieser neumodischen Plattform ansah. Davon hatte ich nie viel gehalten, aber so kamen mir die Minuten wenigstens nicht mehr vor wie Stunden.
Gerade als ich das Handy eigentlich weglegen wollte, ploppte eine Nachricht auf. Sie war von Stephan. "Es tut mir leid, aber ich kann heute nicht mehr kommen. Ich konnte aber einen Ersatz organisieren - Manuel und Luisa kommen dich gleich besuchen. Ich weiß, dass mein Bruder und du in der Vergangenheit eure Differenzen hattet, aber Luisa möchte dich unbedingt sehen und Manuel hat es angeboten. Er muss nicht dabei bleiben, wenn du das nicht möchtest. Ich mache es wieder gut."
Ich las die Nachricht wieder und wieder, die Tränen standen mir in den Augen. Der letzte Mensch, den ich jetzt sehen wollte, war Manuel. Allerdings konnte ich nicht großartig darüber nachdenken, was ich nun tun konnte, denn in diesem Moment klopfte es bereits an meiner Zimmertür.
Beinahe sofort sprang sie auf und Luisa kam herein. "Elena!", rief sie freudig und kam gleich zu mir an Bett, um mir um den Hals zu fallen. Diese Umarmung tat so gut, dass ich sie erwiderte. "Hallo, Kleines.", flüsterte ich und drückte das Mädchen an mich. Sie konnte überhaupt nichts für alles, was geschehen war. "Es ist schön, dass du da bist!" Und das meinte ich auch so.
Luisa ließ mich wieder los und nun bemerkte ich, dass Manuel noch im Türrahmen stand. "Hallo.", sagte er. "Hallo.", gab ich resigniert zurück und war froh, dass Luisa sich gleich wieder an mich wandte. "Ich hab dir was mitgebracht!", offenbarte sie mir und zog aus dem Korb, den Manuel bei sich trug, ein Kuscheltier und ein Blatt Papier. Diese Dinge gab Luisa gleich an mich weiter und setzte sich dann auf mein Bett. Ich freute mich sehr über ihre Geschenke und schloss das Mädchen gleich noch mal in den Arm.
"Im Korb sind noch Lebensmittel, die hat meine Mutter für dich mitgeschickt.", mischte sich nun Manuel wieder ein. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass wir per Du waren, allerdings wollte ich vor Luisa keine Szene machen. "Danke. Richte Sabine liebe Grüße aus.", bat ich ihn, wandte mich aber gleich wieder Luisa zu. "Mach ich. Ich stelle es am besten auf den Tisch."
Davon hielt ich ihn nicht ab. Manuel stellte einige Tupperdosen auf den Tisch ab, während ich mich angeregt mit Luisa unterhielt. "Ich gehe am besten in die Cafeteria. In zwei Stunden hole ich Luisa wieder ab." Das Manuel das sagte hörte ich zwar, allerdings erhielt er weder von mir noch von seiner Tochter eine Antwort. Gleich darauf verließ er das Zimmer und ich war froh, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Luisa erzählte mir viel, vor allem das sie wieder einmal sehr gute Noten in der Schule bekommen hatte und mehrmals erwähnte sie, wie sehr sie sich freute hier zu sein. Nach einer halben Stunde fragte ich sie schließlich, ob sie Lust hatte, etwas zu spielen. Glücklicherweise gab es auf Station ein paar Spiele, von denen sich Luisa eines aussuchte. Wir nahmen es mit aufs Zimmer und machten es uns auf dem Bett gemütlich, jedenfalls so weit wie es möglich war.
Wir lachten viel und es tat unheimlich gut, Stephans Nichte bei mir zu haben.
Leider vergingen die zwei Stunden viel zu schnell und pünktlich auf die Minute stand Manuel erneut im Zimmer, um Luisa wieder abzuholen. Der Abschied fiel uns beiden unglaublich schwer, jedoch war die Besuchszeit auch fast zu Ende und am nächsten Tag musste sie auch wieder in die Schule. Es dauerte lange, bis sie sich von mir lösen konnte. Bevor sie jedoch gingen, musste Luisa nochmal das Bad aufsuchen. Somit waren Manuel und ich nun miteinander allein. Das Schweigen war bedrückend.
Das schien Stephans Bruder ebenfalls so zu sehen, weshalb er zu meiner Verwunderung zu sprechen begann. "Wie geht es dir?", fragte er und ich sah ihn wohl so irritiert an, dass er noch etwas hinzufügte. "Es interessiert mich wirklich, auch wenn du es vielleicht nicht glauben kannst." Ich suchte nach einem Anhaltspunkt der mir das Gegenteil bewies, fand allerdings keinen. Trotzdem sagte mir mein Bauchgefühl, dass ich vorsichtig sein musste. Das blieb ich auch.
"Ich kann mich nicht erinnern, mit Ihnen per Du gewesen zu sein.", meinte ich. "Ich glaube wir haben das immer so gehandhabt, wie es sich gerade ergeben hat. Es ist viel zwischen uns vorgefallen und ich weiß, dass ich das nicht so einfach wieder gut machen kann. Allerdings weiß ich auch, wie viel du meinem Bruder bedeutest. Ich möchte es mir mit ihm nicht vermasseln und ich kann auch ein ganz netter Kerl sein.", beteuerte Manuel mir. "Ach, tatsächlich?", fragte ich misstrauisch. "Tatsächlich. Und das würde ich dir auch gerne beweisen, wenn ich darf. Ich glaube wir sollten uns mal aussprechen und von vorne anfangen. Ich würde Morgen vorbeikommen, zum Mittagessen." Ich konnte darauf nichts erwidern, da Luisa nun aus dem Bad kam. Nochmals nahm sie mich fest in den Arm und dann gingen sie wirklich.
Noch glaubte ich nicht, was Manuel mir da gesagt hatte, sollte allerdings am nächsten Tag eines besseren belehrt werden. Denn er kam tatsächlich gegen Mittag vorbei und ich ließ mich doch darauf ein, gemeinsam mit ihm in der Cafeteria zu Mittag zu essen. Zu Beginn des Gesprächs gab ich mich eher abweisend, aber mit der Zeit kam es mir vor, als würde Manuel es wirklich ernst mit seiner Entschuldigung meinen. Und letztendlich war es doch noch eine nette Unterhaltung.
Die Cafeteria leerte sich allmählich und es wurde ruhiger. Letztendlich waren außer Manuel und ich nur noch wenige andere Personen dort. Es war angenehm ruhig. Mein Handy, das auf dem Tisch lag, leuchtete dann erneut auf. Das war schon so oft während der letzten Stunden, beziehungsweise seit heute Morgen, passiert und ich wusste, dass es Stephan war. Er versuchte auf Biegen und Brechen mich zu erreichen, aber ich blieb stur und reagierte nicht darauf. "Möchtest du nicht rangehen?", meinte Manuel, der es bemerkt hatte.
"Nein, das möchte ich nicht.", gab ich entschlossen zurück. "Und ich werde nun langsam müde. Ich glaube, wir haben soweit alles geklärt und ich danke dir wirklich für dieses aufschlussreiche Gespräch. Vielleicht können wir das irgendwann fortsetzen." Und so wie ich es sagte, meinte ich es auch. Nun war ich aber wirklich müde und wollte einfach zurück auf Station. Manuel wollte mich noch dorthin begleiten, dies lehnte ich jedoch ab. Während ich auf Station zurück ging, ließ ich die Unterhaltung nochmal Revue passieren. Im Nachhinein war es gut, das wir uns ausgesprochen hatten, auch wenn ich das anfangs nicht geglaubt hatte.