Kapitel 4

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Stephan kehrte zu Paul zurück. "Die bringen sie jetzt in die Klinik. Wir sollten bei Zeiten dort vorbeischauen, vielleicht bekommen wir unsere Aussage noch.", erklärte er und lief zum Auto. "Sollten wir tun.", bestätigte Paul und folgte seinem Kollegen, der sehr nachdenklich wirkte.
"Du warst ziemlich lang im RTW.", merkte Paul an, nachdem sie eingestiegen waren. "Sie wollte das ich bleibe, also bin ich dieser Bitte nachgekommen.", antwortete Stephan und fuhr los. "Wer ist sie? Die Kleine, der du deine Jacke gegeben und die du so heldenhaft aus dem Wald getragen hast?" Paul wusste bereits, dass er nur die Unbekannte meinen konnte. Aber er hatte die vielsagenden Blicke seines Kollegen bemerkt. "Richtig.", bestätigte Stephan. "Sie hat sich nicht mehr auf den Beinen halten können, deshalb habe ich sie getragen und außerdem war sie komplett unterkühlt. Sie muss die ganze Nacht da draußen verbracht haben. Hast du gegen das was ich getan habe irgendwas einzuwenden?", wollte Stephan wissen. "Natürlich nicht!", entgegnete Paul.
"Ich hab nur gesehen, wie du sie angeschaut hast. Mehr nicht." Paul musste grinsen. "Wie hab ich sie denn angeschaut?", fragte Stephan irritiert. "Vielsagend einfach. Gib es schon zu, Stephan. Die Kleine hat dir gefallen.", meinte Paul und traf damit genau ins Schwarze. Trotz der Blessuren hatte Stephan die Frau als sehr attraktiv eingestuft. "Naja, sie war schon sehr hübsch.", antwortete Stephan.
"Aber wir sollten der Leitstelle mal sagen, dass wir wieder einsatzbereit sind. Findest du nicht?" Er hoffte so vom Thema ablenken zu können, bekam aber diese Frau den restlichen Tag über nicht mehr aus den Kopf.
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Die Fahrt in die Klinik hatte nicht allzu lange gedauert. Das Krankenhaus trug den Namen "Klinik am Südring". Ich bildete mir ein diesen Namen schon mal gehört zu haben, konnte aber keinerlei Verbindung zu ihm herstellen. In der Notaufnahme wurde ich an einen Arzt namens Frederik Seehauser übergeben, der mich mit seinem Team wie geplant nochmal gründlicher untersuchte. MRT, CT, Blutuntersuchung. Wie Herr Seehauser es nannte führten sie das volle Programm durch. Das Prozedere dauerte seine Zeit. Und die Ärzte waren sich einig, sie würden mich erstmal hier behalten. Woanders konnte ich auch nicht hin, schließlich wusste ich genauso viel über mich wie die Ärzte. Nämlich nichts. Bis die Ergebnisse vorlagen würde es noch ein Weilchen dauern, weshalb man mich auf ein Zimmer brachte.
Dieses teilte ich mit einer anderen Patientin, diese schlief. Es war noch nicht einmal Nachmittag und ich wusste nichts mit mir anzufangen. Es fühlte sich bereits an, als wäre ich  bereits eine Ewigkeit hier. Wenigstens hatten die Schmerzen nachgelassen, was alleine nur an den Medikamenten lag die sie mir verabreicht hatten. Ich hing am Tropf und schaute den kleinen Tröpfchen zu wie sie im kleinen Röhrchen landeten und von dort aus über einen dünnen Schlauch wenig später in meinen Körper eingeflößt werden würden.
Schlafen konnte ich nicht, das hatte ich bereits probiert. Etwas geben lassen wollte ich mir auch nicht. Viel lieber wollte ich Nachdenken, mich so schnell wie möglich erinnern. Aber man hatte mir gesagt, dass es sehr lange dauern konnte bis meine Erinnerungen zurück kamen oder ich mich auch nie wieder an mein altes Leben erinnern konnte. Jedoch gingen die Ärzte fest davon aus, dass die Amnesie  aufgrund eines Schocks und dem Sturz zustande gekommen war und die Symptome bald abklingen würden. Ich sollte mich nur gedulden. Das war jedoch sehr schwer, da ich keine Ahnung hatte wo ich nach meiner Entlassung leben oder allgemein wie es weitergehen sollte.
Gerade als ich doch kurz davor war einzuschlafen klopfte es an der Tür und gleich darauf kam Herr Seehauser mit einer Schwester herein. "Wir haben ihre Ergebnisse.", teilte er mir mit. Es hatte ungefähr dreieinhalb Stunden gedauert, wie ich nach einem Blick auf die Uhr an der Wand feststellte. Ich setzte mich ein wenig auf. "Wie fühlen sie sich?", fragte der Arzt. "Schon besser, die Medikamente helfen.", antwortete ich. "Und wie sieht's mit den Erinnerungen aus?", fragte er als nächstes. "Unverändert.", erwiderte ich seufzend. "Die kommen sicherlich wieder.", meinte der Arzt zuversichtlich.
"Aber jetzt zu ihren Ergebnissen. Sie haben keine innerem Blutungen, dafür drei geprellte Rippen und einen verstauchten Fuß. Ganz so wie wir es bereits vermutet hatten. Hinzu kommen eine leichte Gehirnerschütterung und viele Hämatome. Allerdings müssen wir sie nicht operieren oder ähnliches, das ist schon mal positiv."
Ich nickte und der Mann fuhr fort. "Allerdings haben wir bei der Blutuntersuchung festgestellt, dass sie offenbar an Asthma leiden und die Narbe auf ihrem Oberkörper deutet ganz klar auf eine vergangene Herzoperation hin. Können sie sich daran erinnern?", fragte der Arzt weiter. "Nein.", erwiderte ich. Ein wenig erschreckten mich diese Tatsachen, aber das konnte ich gut verbergen. "In Ordnung. Aber wir werden noch ein paar weitere Tests machen müssen." Das war nachvollziehbar, weshalb ich nickte. "Allerdings wäre da noch etwas.", setzte Frederik unsicher an.
"Was?", fragte ich und rechnete mit etwas schrecklichem. "Wir konnten bei der Blutuntersuchung noch etwas anderes herausfinden." Er wusste anscheinend noch nicht wie er es mir sagen sollte. "Bin.. bin ich ernsthaft krank?", fragte ich schon leicht panisch. "Gewiss nicht, so kann man das bestimmt nicht nennen. Jedoch.. wird es sie in ihrem Zustand wahrscheinlich sehr erschrecken. Aber sie können sich sicher sein, dass man bestimmt eine Lösung finden wird. "Was haben sie raus gefunden?", fragte ich ungeduldig. "Wir konnten feststellen, dass ihre HCG-Werte erhöht sind."
Und plötzlich schien eine Schublade in meinem Gehirn auf zu gehen. "Erhöhte HCG-Werte.. deuten auf eine Schwangerschaft hin.", sagte ich wie selbstverständlich. "Woher wissen sie das?", fragte der Arzt durchaus interessiert. "Ich hab keine Ahnung, aber.. aber ich bin doch.. nicht wirklich schwanger, oder?" Doch der Arzt bestätigte meine Vermutung. "Doch, sie sind schwanger. Ungefähr in der siebten Woche, um es genauer bestimmen zu können müssen wir einen Ultraschall machen. Dort werden wir sie jetzt hinbringen.", erklärte er mir.
Da ich zum Laufen noch nicht genügend Kraft aufbringen konnte, wurde ich mit dem Rollstuhl zum Ultraschall gebracht. Nun lag ich auf der Liege im Untersuchungsraum und sah zu, wie nun ein anderer Arzt alles vorbereitete. Ich hatte ihn und Frederik reden hören. Sie bezweifelten Beide stark, dass das Kind noch lebte. Bei allen Verletzungen die ich hatte befürchteten sie, dass sie beim Ultraschall keinen Herzschlag mehr finden würden.
"So, dann fangen wir mal an.", meinte der Arzt freundlich. "Bitte einmal den Bauch frei machen." Ich schon das T-Shirt, das man mir gegeben hatte, ein Stück hoch. Der Mann gab ein wenig Gel auf die Haut, die Kälte ließ mich zusammen zucken. "Ich hab sie gewarnt.", verteidigte sich der Arzt und lachte leicht. Wahrscheinlich wollte er die Situation so entschärfen, was ich ihm auch hoch anrechnete. Ich fühlte mich gut aufgehoben. Der Gynäkologe begann mit dem Ultraschall, ich vermied es auf den Bildschirm zu sehen.
"So wie das für mich aussieht sind sie tatsächlich schon in der siebten Woche.", meinte der Gynäkologe und ich spürte wie er mit der Sonde über meinen Bauch fuhr. "Ja, das sieht mir definitiv ganz nach siebter Woche aus.", bestätigte der Arzt seine Vermutung nochmal selbst. "Man erkennt bereits ein bisschen was.", kommentierte er die Untersuchung und ich ließ ihn das einfach machen, weiterhin ohne auf den Bildschirm zu blicken. "Der Embryo ist jetzt ungefähr 6 Millimeter groß, genau wie es sein soll.", erklärte der Arzt weiter und mittlerweile musste ich mich zwingen, nicht hinzusehen. Nicht bevor ich das hörte, was ich hören wollte. Deshalb fragte ich nun einfach nach.
"Lebt es?", wollte ich wissen. "Einen Moment." Der Arzt fuhr wieder über meine Bauchdecke. Es dauerte unheimlich lange und ich stellte mich bereits schon auf das Schlimmste ein. Mit Sicherheit suchte er nach dem Herzschlag, den er offensichtlich nicht fand. Jedenfalls nicht auf Anhieb, aber dann gab er doch Entwarnung. "Ah, hier ist es ja!", meinte er und nun musste ich hinsehen.
"Das Herz, sehen sie." Der Arzt deutete auf das kleine Herz, das wie wild schlug. Stark und kräftig. "Das sieht sehr gut aus.", sagte er zufrieden. "Wir haben hier einen kleinen Kämpfer, wie es mir scheint. Ihrem Baby geht es prächtig, mehr kann und muss ich nicht sagen." Mir kamen die Tränen vor Erleichterung. "Wie kann man vergessen das man schwanger ist?", schluchzte ich und wischte mir mit dem Handrücken über die Wangen. "Hier." Der Gynäkologe reichte mir eine Packung Taschentücher, aus der ich eins heraus zog um mir die Tränen nochmal richtig abzuwischen. Dann säuberte ich mir den Bauch. Der Arzt hatte inzwischen ein Ultraschallbild ausgedruckt und das gab er mir. "Es ist süß.", meinte ich und lächelte. Behutsam legte ich die andere Hand auf meinen Bauch. "Das ist es und es wird noch viel süßer. Wollen sie ihren Mutterpass gleich haben? Ich nehme an sie können sich nicht erinnern ob sie schon einen bekommen haben, deshalb würde ich vorschlagen machen wir doch vorsichtshalber einen neuen."
Ich nickte eifrig und der Arzt verließ das Zimmer. Ich war allein. Nein, das stimmte nicht ganz. Schließlich gab es da noch den kleinen sieben Wochen alten Bauchbewohner, mit dem ich meinen Körper teilte. Ich war nicht allein. Das Gefühl war einerseits schön, andererseits auch beängstigend. Denn es bedeutete, dass ich doppelte Verantwortung hatte. Für mich und das Baby. Und das obwohl mein Gedächtnis wie ausgelöscht war und ich keine Ahnung hatte wie es weitergehen sollte. Aber jetzt sollte ich meinen Fokus darauf setzen erstmal gesund zu werden, bestimmt würde sich alles irgendwie ergeben, ich musste nur Geduld haben.
Der Arzt kehrte ein paar Minuten später zurück und übergab mir meinen Mutterpass, bevor er mich anschließend auf mein Zimmer zurück schickte. Ich sollte mich ausruhen so viel es ging. Eine Schwester brachte mich mit dem Rollstuhl zurück auf meine Station, wo ich mich gehorsam zurück ins Bett legte und kurz darauf einschlief. Ich war von allem ziemlich erschöpft, was auch kein Wunder war.
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Stephan versuchte seine Schicht so gut es ging noch hinter sich zu bringen. Aber immer wieder schlich diese Frau sich in seine Gedanken und verhinderte, dass er sich richtig konzentrieren konnte. Paul blieb das nicht verborgen. "Die 20 Minuten bis Feierabend hält du noch aus, oder?", fragte er und holte Stephan so in die Realität zurück.
"Was?", fragte er. "Wir haben in 20 Minuten Feierabend, danach kannst du sofort in die Klinik fahren. Ich merke doch, dass du es nicht abwarten kannst, sie wieder zu sehen.", meinte Paul und steuerte bereits die Dienststelle an. "Wir müssen doch sowieso nochmal hinfahren, vielleicht erspare ich uns so den Weg. Ich geh rein dienstlich dorthin." Stephan versuchte Paul einen Bären aufzubinden, auch das merkte er sofort.
"Ganz sicher. Du fährst nach Feierabend freiwillig ins Krankenhaus um ein Opfer zu befragen. Stephan, für wie blind hälst du mich eigentlich? Die Kleine hat dir den Kopf verdreht, das muss dir nicht peinlich sein. Obwohl.. ihr habt euch erst einmal gesehen und das unter Umständen, unter denen man sich nicht unbedingt kennenlernen sollte. Aber ich find's süß. Ist mal was anderes." Stephan verdrehte die Augen. "Es beschäftigt mich einfach wie es ihr geht, weil sie verdammt böse zugerichtet worden ist und sie sich an nichts erinnern kann. Sie hat mir vertraut und ich finde, dass ich sie alleine deshalb besuchen sollte." Paul wusste, dass Stephan sich erneut nur raus reden wollte.
Er bemerkte aber auch, dass er sich sehr viele Sorgen machte. Um eine Frau die er nicht kannte, aber das stand jetzt nicht zur Debatte. "Wir werden herausfinden wer sie ist und wer das war.", sagte Paul überzeugt und parkte den Wagen. Stephan ging sich nicht wie üblich umziehen, sondern wollte die Frau in seiner Uniform besuchen gehen. Es war etwas vertrautes für sie, zumindest glaubte er das. Nachdem er sich von seinen Kollegen verabschiedet hatte setzte er sich in sein Auto und fuhr los Richtung Klinik.
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Ich schreckte aus dem Schlaf hoch. Irgendetwas hatte ich geträumt und ich glaubte die Schmerzen wirklich zu spüren, die mir jemand zugefügt hatte. Es dauerte ein wenig bis ich realisierte wo ich war. An ein Gesicht konnte ich mich nicht erinnern, ich wusste nur das es derjenige gewesen sein musste vor dem ich diese panische Angst hatte. Mann oder Frau, groß oder klein, Alter und alles andere hatte ich nicht wahrnehmen können. Der Traum war allgemein sehr verschwommen gewesen.
"Alles klar?", fragte mich meine Zimmergenossin, die auf dem anderen Bett saß und las. "Ich glaub schon.", erwiderte ich und fuhr mir durch die verschwitzten Haare. "Ich war kurz davor jemanden zu rufen!", meinte sie nicht wirklich freundlich. "Bei ihrem Gejammer kann man sich ja nicht konzentrieren!", hielt sie mir vor.
"Gejammer?", fragte ich irritiert. "Gejammer, Gewinsel, was auch immer das gewesen sein soll!" Ich musste wohl ziemlich lebhaft geträumt haben. "Entschuldigung.", sagte ich peinlich berührt und schlug die Bettdecke beiseite. "Jaja! Das ist ein Krankenhaus und keine Psychiatrie, obwohl sie da meiner Meinung nach hingehören! Amnesie.. Das klingt schon nach psychisch krank!", antwortete die Frau verächtlich. Ich schwieg, setzte mich auf die Bettkante und versuchte auf zu stehen. Noch ein wenig wackelig auf den Beinen lief ich ins Bad. Ich wollte mir nur das Gesicht waschen um wieder klare Gedanken fassen zu können, weshalb ich nicht ab schloss. Eine gute Entscheidung wie sich noch herausstellen sollte.
Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht und sah mich dann im Spiegel an. Es kam mir vor, als hätte ich mir gegenüber eine fremde Person stehen. "Wer bist du?", fragte ich und strich mir behutsam über das Pflaster an meiner Stirn. Da mir leicht schwindelig wurde lief ich langsam zur Toilette und setzte mich auf den Deckel. Ich legte den Kopf in die Hände und begann zu weinen. Mir war alles zu viel. Nicht zu wissen wer ich war, wer für meine Verletzungen verantwortlich war und vor allem wusste ich nicht mal wer der Vater des Kindes sein konnte. Und dann hatte ich noch so eine egoistische Zimmergenossin erwischt, die keinerlei Rücksicht nahm, was ihre Worte betraf.
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In der Klinik angekommen holte Stephan sich am Empfang die Informationen die er brauchte. Die Frau hinter dem Tresen wusste sofort wen er meinte, als Stephan nach der unbekannten Frau fragte. Im Krankenhaus verbreiteten sich besondere Neuigkeiten wie ein Lauffeuer.
Stephan kannte sich aus, da er bereits öfter hier gewesen war. Er fragte sich, wie sie wohl reagieren würde, wenn er nun schon vorbei kam. Es dauerte nicht lange, bis er das Zimmer gefunden hatte. Dort klopfte er an.
"Herein!", hörte er jemanden wenig begeistert sagen. Aber es war nicht sie, ihre zarte Stimme hätte Stephan sicherlich wiedererkannt. Trotzdem betrat er den Raum. Eine etwas fülligere Dame um die 50 saß auf dem Bett auf der Fensterseite. In ihrer Hand ein Buch.
"Ein Polizist, da schau an!", stellte sie fest. "Sind sie hier um die andere mitzunehmen? Die wo nicht weiß wer sie ist, mich mit ihrem Gejammer im Schlaf jetzt schon in den Wahnsinn treibt und die wahrscheinlich eine Verbrecherin übelster Sorte ist? Nehmen sie die mit, das wäre echt das Beste für uns alle." Stephan wollte seinen Ohren nicht trauen.
"Wohin sollte ich sie ihrer Meinung nach denn bringen?", fragte er. "In den Knast, in die Psychiatrie.. wohin auch immer! Das jemand angeblich nichts mehr aus seinem Leben weiß ist nicht normal." Stephan wurde sauer. "Dass jemand so boshaft ist, ist nicht normal!", stellte er etwas lauter klar. "Wo ist sie?", wollte er nun sofort wissen. "Im Bad.", antwortete die Frau nun kleinlaut, da sie mit dieser Reaktion von Stephan nicht gerechnet hatte.
Stephan wollte gerade anklopfen, als sich die Tür von selbst öffnete und die, die er suchte vor ihm stand. Sie hatte geweint, das konnte er deutlich erkennen.
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Ich saß schon eine Weile im Bad, als ich plötzlich Stimmen vernahm. Die Frau unterhielt sich mit jemandem, dessen Stimme ich gleich wiedererkannte. Der Polizist von heute Morgen, der mich aus dem Wald getragen und im Krankenwagen bei mir geblieben war. Ich konnte jedes Wort der beiden verstehen. Auch, dass er die Frau zurecht wies blieb mir nicht verborgen.
Ich wollte nun raus gehen und nachsehen, weshalb ich aufstand und die Tür öffnete. Vor dieser stand er bereits. Unsere Blicke trafen sich und irgendwie gab es zwischen uns eine Art Verbindung. Vielleicht weil er der erste gewesen war, den ich mit meinem ausgelöschtem Gedächtnis getroffen hatte. Und ich verspürte nun das Bedürfnis erneut seine Arme zu spüren, die mich vor ein paar Stunden sicher aus dem Wald getragen hatten. Und wie als ob er Gedanken lesen konnte zog er mich an sich, um mich in den Arm zu nehmen.
Es tat verdammt gut und sofort war diese Vertrautheit wieder da. Und das obwohl wir uns höchstens eine halbe Stunde gesehen hatten, es war verrückt. "Lust auf Kaffee und Kuchen?", fragte er mich leise und ich sah ihn fragend an. "Die Cafeteria hier ist nicht schlecht und mal aus diesem Zimmer raus zu kommen wird bestimmt nicht schaden.", flüsterte er und schaute unauffällig hinüber zu der Frau. Diese hatte uns ebenfalls beobachtet, allerdings zu spät weg geschaut weshalb ich es bemerkt hatte. "Ich hab kein Geld.", antwortete ich. "Das soll mal meine Sorge sein, auf geht's."
Doch ich zögerte. "Ich glaube nicht, dass ich es bis zur Cafeteria schaffe.", meinte ich, schließlich hatte ich es nur mit Mühe ins Bad geschafft. "Einen Moment.", meinte Stephan und ging aus dem Zimmer. "Jammer können sie ja auch mit Worten wenn sie wach sind!", spottete die Frau gleich wieder los. "Anscheinend haben sie ja tatsächlich jemanden gefunden, der sie finanziell aushalten wird. Das ging schnell!" Ich konnte mir wirklich nicht erklären, was ihr Problem war. "Oder ist er etwa ihr Freund? Das würde mich wundern!" In dem Moment kam Stephan zurück.
"Was würde sie wundern?" Er hatte einen Rollstuhl mitgebracht. "Wenn sie der Freund von ihr wären.", meinte die Frau und lachte spöttisch. "Ich bin nicht ihr Freund, das stimmt.", antwortete Stephan. "Ich bin ihr  Ehemann und jetzt lesen sie einfach weiter und halten mal bitte die Klappe!" Er lächelte, aber es war eher ein aufgesetztes Lächeln. Selbst ich wusste, dass das nicht stimmen konnte. Aber der Frau hatte es die Sprache verschlagen, genau deshalb hatte er das auch behauptet. Um ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen und das hatte hervorragend funktioniert.
"Setz dich, Liebling.", meinte Stephan nun. Ich musste lächeln, weil er das letzte Wort wirklich betont liebevoll aussprach. Beinahe glaubte ich auch, dass seine Behauptung wahr war. Aber das war sie nicht. Ich setzte mich in den Rollstuhl und Stephan schob ihn hinaus in den Gang. Anschließend schloss er die Zimmertür und schob mich weiter Richtung Aufzug.
"Ich muss ihnen danken.", sagte ich. "Wofür?", fragte Stephan. "Dafür, dass sie mich in Schutz genommen haben. Vor ihr.", antwortete ich. "Dafür müssen sie mir nicht danken.", erwiderte Stephan. "Doch, dass muss ich. Und auch dafür, dass sie mich nicht verurteilen.", stellte ich klar. "Auch dafür nicht, weil es dafür keinen Grund gibt.", widersprach mir der Beamte wieder. "Ganz sicher muss ich das. Ich weiß nicht mal meinen eigenen Namen, wo ich herkomme.. ich hab selbst vergessen, dass ich schwanger bin! Das ist verrückt, da hat sie recht!"
Mir liefen wieder ein paar Tränen übers Gesicht. Stephan hielt vor den Aufzügen an, kam nach vorne und ging ein wenig in die Knie um mir in die Augen sehen zu können. "Sie können dafür nichts und ich will so etwas aus ihrem Mund nicht mehr hören!", stellte er klar und legte seine Hände auf meine Wangen. Mit dem Daumen strich er mir sanft die Tränen weg. "Sie können für all das nichts!", wiederholte er eindringlich. "Hören sie auf sich so zu quälen, okay?" Ich musste einfach nicken, seine Augen hypnotisierten mich regelrecht. "Okay.", antwortete ich und er lächelte. "Sehr gut.", meinte er und dann kam der Aufzug. Er schob mich hinein.
"Ich habe schon verrücktere Menschen gesehen, das können sie mir glauben. Und hab ich richtig gehört, sie sind schwanger?", fragte er. "Ja, ich hab's vorhin erfahren." Nun musste ich ebenfalls lächeln. "Na dann mal Herzlichen Glückwunsch!", meinte Stephan. "Danke! Aber ich weiß immer noch nicht wer ich bin und wo ich herkomme. Wenn meine Erinnerungen nicht mehr zurück kommen, muss ich komplett von vorne anfangen.", erklärte ich nachdenklich. "Das kann manchmal auch sinnvoll sein.", antwortete Stephan. "Aber wir gehen jetzt einfach mal davon aus, dass sie sich bald wieder erinnern." Der Aufzug hielt an und er schob mich nach draußen in die Cafeteria. Er suchte einen Platz und räumte extra einen Stuhl weg, damit der Rollstuhl hin passte.
"Was wollen sie haben? Ich geh es holen.", meinte er. "Ich weiß nicht was ich mag.", sagte ich ehrlich. "Am besten einen Tee, Kaffee ist nicht so sinnvoll wenn man schwanger ist.", meinte Stephan. "Und Kuchen werde ich schauen. Wir werden schon etwas finden, was euch schmeckt." Daraufhin ging er und ich sah ihm lächelnd hinterher.
Er war wirklich sehr zuvorkommend und nett. Nur leider war es die vollkommen falsche Situation um mir zu erhoffen das daraus mehr werden könnte, zumal es offenbar bereits einen Mann an meiner Seite gab. Ich konnte mich nur nicht an ihn erinnern. Vorsichtig strich ich über meinen Bauch und versuchte erneut krampfhaft mich an irgendwas erinnern zu können. Erneut vergeblich.

Bedingungslose LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt