Kapitel 36

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Ich spürte, wie der bereits schon vorhandene Druck auf meiner Brust noch stärker wurde und mir stockte erneut der Atem. Kurz fragte ich mich, ob ich nicht doch vollkommen hysterisch war, aber je mehr ich darüber nach dachte wurde mir klar, dass ich mich definitiv nicht irrte. Und nun stand ich wie gelähmt in meiner Küche und wusste nicht, was ich tun sollte. Erneut war ich gemeinsam mit jemanden in meinen vier Wänden, der mir Leid zufügen wollte. Mir und meinem ungeborenen Baby. Und ich wusste nicht einmal warum.
Tief atmete ich ein und wieder aus, um vielleicht doch wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Es half jedoch nicht auf Anhieb und ich brauchte einige Zeit, bis ich wenigstens ein paar Handlungsoptionen beisammen hatte. Jeder normale Mensch würde wahrscheinlich die Polizei rufen. Mein Handy befand sich in meiner Handtasche, die ich im Flur abgestellt hatte. So, wie ich es immer tat. Und heute hatte ich damit einen großen Fehler begangen, was mir nun schmerzlich bewusst wurde.
Auch wurde mir gleichzeitig klar, dass ich mit einem Anruf bei der Polizei im Begriff war, Stephans Familie zu zerstören. Immerhin war es sein Bruder, den ich mit meinem Anruf ins Gefängnis bringen würde. Vorausgesetzt, die Beamten würden mir glauben. Im Augenblick hatte ich nur den Verdacht, dass er mich hatte vergiften wollen. Alleine nur der Geruch des Elixiers galt wohl kaum als Beweis, zumindest konnte ich mir das nicht vorstellen. Jedoch sprachen auch Manuels Verletzungen an der Hand dafür und vielleicht würde man mir doch glauben, obwohl Manuel doch kein Motiv hatte. 'Oder doch?!', schoss es mir durch den Kopf, obwohl ich ihm persönlich eigentlich nie etwas getan hatte. Ich konnte mir nur vorstellen, dass er mich loswerden wollte, um Stephan irgendwie zu schützen. Das es aber bei weitem komplizierter war, ahnte ich noch nicht.
Ich fragte mich auch, ob ich lieber Stephan anrufen sollte. Oder vielleicht sollte ich einfach abhauen und bei Nachbarn oder Passanten Hilfe suchen, um bis zum Eintreffen der Polizei nicht allein mit Manuel hier verweilen zu müssen. Ich versuchte nun, das Zittern meines Körpers zu unterbrechen, was mir nur mit vollster Konzentration gelang. Egal was, ich musste unbedingt etwas unternehmen und zwar sofort.
Doch bevor ich mich auch nur einen Schritt weg bewegen konnte, hörte ich plötzlich Schritte, die sich näherten und gleich darauf tauchte Manuel in der Küchentür auf. Ich brauchte mich gar nicht umzudrehen, um zu wissen, dass er da war. Ich spürte seinen Blick, der auf mir lag.
"Ich würde dann mal wieder fahren.", sagte er. Manuel klang komplett normal. Keinesfalls so, als hätte er mit dem Gedanken gespielt, mich zu vergiften. Mir wurde schlecht und ich legte unwillkürlich die Hand auf meinen Bauch. Darin befand sich das wertvollste, was ich hatte und hinter mir stand erneut ein Mensch, der diesem Schatz etwas antun wollte. Ich konnte Manuel nun einfach gehen lassen, wenn er das überhaupt wirklich tun wollte. Oder er stand dort hinter mir, mit einer Waffe, mit der er seinen gescheiterten Versuch mir Schaden zuzufügen, doch noch in eine grausame Realität umsetzen konnte.
"Elena, ist alles in Ordnung?", fragte Manuel und ich verkrampfte mich nur noch mehr. Tränen sammelten sich in meinen Augen und ich hörte, wie er langsam näher kam. Seine Schuhe machten unheilvolle Geräusche auf den Fliesen und ich war abermals unfähig, mich zu rühren. Jedoch musste ich etwas unternehmen und ich blickte mich eilig um. Mir blieb nicht viel, was ich auf die Schnelle erreichen konnte, um mich zu verteidigen. Doch dann fiel mir plötzlich der Messerblock ins Auge, der nur eine Armlänge entfernt von mir in der Ecke der Küchenzeile stand.
Ohne noch weiter großartig darüber nachzudenken, streckte ich meine Hand aus und schnappte mir das größte Messer mit der längsten Klinge. Diese Messer waren unglaublich scharf und wenn es sein musste, mit Sicherheit auch tödlich. Mit dem Messer in der Hand drehte ich mich daraufhin um starrte in das überwältigte Gesicht von Manuel. "Komm mir bloß nicht zu nahe!" Meine Stimme bebte, genau wie meine Hand, die das Messer auf Manuel gerichtet hielt. "Elena, was...", setzte Manuel an, doch ich unterbrach ihn.
"Komm näher und ich garantiere für nichts!", drohte ich erneut. Manuel hob die Hände und ging ein paar Schritte zurück. Eine Waffe hatte er nicht bei sich, zumindest hielt er keine in den Händen. "Was soll das denn?", fragte Manuel erstaunlich ruhig. "Das sollte ich dich fragen!", entgegnete ich. "Du wolltest mich vergiften!", schluchzte ich und sofort entglitten ihm alle Gesichtszüge. Er verstand, dass ich seinen Plan durchschaut hatte.
"Was... was redest du denn da? Das ist doch vollkommen absurd!", leugnete Manuel alles, aber es klang durch sein Stammeln alles andere als glaubwürdig. Ich beschloss, weiter ins Detail zu gehen. "Ich bin Ärztin!", schrie ich. "Hast du wirklich geglaubt, ich erkenne eine Vergiftung nicht, wenn ich eine sehe?!" Ich hielt das Messer weiter auf Manuel gerichtet. "Deine Verletzung an der Hand stammt nicht von heißem Wasser, der Wasserkocher ist kalt! Du hast versucht mich zu vergiften und hast dich dabei so dumm angestellt, dass du dir das Zeug über die Hand geschüttet hast!", fasste ich weiter zusammen.
"Elena, ich glaube dir geht es nicht gut. Nimm einfach das Messer runter und dann..." Erneut fiel ich ihm ins Wort. "Vergiss es! Und wage es nicht, mich als paranoid hinzustellen! Ich habe den Geruch erkannt, ich würde ihn unter tausenden erkennen! Das Zeug, was du in diesem Fläschchen hattest, das waren nicht irgendwelche Geschmackstropfen! Es war  Extrakt gewonnen vom sogenannten Gift-Wacholder! Es war Sadebaumöl, ist es nicht so?!" Manuel sah mich entgeistert an und mir wurde bewusst, dass ich mit allem richtig lag. In meinen Augen sammelten sich erneut Tränen der Verzweiflung und Wut.
"Warum?", war das einzige, was ich nun mit erstickter Stimme hervorbringen konnte. "Du hast recht.", setzte Manuel an. "Mit allem. Und ich werde dir alles erklären, nur bitte leg das Messer weg!" Allerdings dachte ich gar nicht daran. "Warum, verdammt nochmal?! Was habe ich getan, dass du mich so hasst und du meinem Baby und mir so etwas antun willst?!" Bei dem Gedanken, was alles hätte passieren können, schnürte sich mir erneut die Kehle zu.
"Ich wollte das doch alles gar nicht!", gab Manuel verzweifelt zurück. "Und ich habe es doch auch nicht durchgezogen!", fügte er hinzu. "Aber du hast darüber nachgedacht!", stellte ich klar. "Du wolltest mir weh tun, mir und meinem Baby, nach allem was wir durchgemacht haben und ich will wissen warum!" Ob man mein hysterisches Kreischen bis hinaus auf die Straße hörte, war mir gleichgültig. Und auch das Verlangen, Manuel mit dem Messer in meiner Hand ernsthaft zu verletzen, wuchs von Sekunde zu Sekunde an. Notwehr, genau darauf würde ich im Falle des Falles plädieren. Dieser Mensch widerte mich nur noch an.
"Du musst mir glauben, dass ich darauf nicht allein gekommen bin! Aber ich wurde so unter Druck gesetzt, dass ich... Elena, ich will doch einfach meinen Bruder nicht verlieren! Sie wollte, das ich das tue! Ich schwöre dir, es war niemals meine Idee!", versuchte Manuel sich zu verteidigen. "Du lügst doch! Wer sollte diese Idee gehabt haben, wenn..." Manuel ließ mich nicht aussprechen. "Melanie!", rief er schließlich. "Es war Melanie!", wiederholte er und ich konnte es kaum fassen.
"Sie hasst dich, weil Stephan sich in dich verliebt hat!", stellte Manuel klar. "Er liebt dich wirklich und Melanie weiß, dass mein Bruder nur aus Pflichtbewusstsein bei ihr bleibt! Wegen des Kindes! Würde es kein Kind geben, wäre Stephan hier bei dir! Weil er dich liebt! Du musst mir glauben, es gehörte alles zu ihrem Plan und ich war so doof und hätte es ausgeführt, nur damit Stephan niemals die Wahrheit erfährt!" Manuel redete so schnell, dass er anschließend erstmal Luft holen musste.
"Welche Wahrheit?!", verlangte ich zu wissen und Manuel atmete hörbar aus. "Das Kind  von Melanie könnte auch von mir sein.", sagte der Mann und ich fiel gefühlt erneut vom Glauben ab. "Was?!", brachte ich mühevoll hervor. "Ich hatte vor ein paar Monaten etwas mit der Freundin meines Bruders und das könnte zeitlich genau zu dem Entstehungszeitpunkt des Kindes passen. Ich... ich hab mich damals auf Melanie eingelassen und bereue es zutiefst, das musst du mir glauben! Ich wollte aber nicht, dass Stephan das jemals erfährt und Melanie setzt mich so enorm unter Druck, dass ich... Elena, es tut mir so leid!"
Manuel standen die Tränen in den Augen und es kam mir vor, als würde das, was er sagte, tatsächlich so meinen. Nur gab es keine Entschuldigung, die jemals ausreichend gewesen wäre, um das Geschehene nur annähernd wieder gut zu machen. "Raus hier!", flüsterte ich, da ich es lauter gerade nicht herausbrachte. "Elena, ich..", begann Manuel erneut zu sprechen, doch ich ließ das nicht zu. Ich wollte nichts mehr hören. Gar nichts mehr.
"Raus hier!", schrie ich nun und Tränen liefen mir über die Wangen. "Verschwinde oder ich bring dich um!", drohte ich und umklammerte das Messer noch fester, wenn das überhaupt möglich war. "Elena, bitte. Ich werde alles tun, um..." Ich machte zwei Schritte auf Manuel zu, um ihn zu zeigen, dass ich es tatsächlich ernst meinte. "Das ist deine letzte Chance zu verschwinden!", stellte ich klar, wusste aber gleichzeitig, dass Manuel mir körperlich mehr als überlegen war. Würde es tatsächlich zum Äußersten kommen, musste ich ihn an der richtigen Stelle erwischen, ansonsten konnte er mich ganz leicht überwältigen. Ich musste ihn aus der Wohnung raus bekommen, erst dann konnte ich Maßnahmen treffen. Erst dann konnte ich klar darüber nachdenken, wie ich mit diesem gefährlichen Wissen nun verfahren würde.
"Okay, ich gehe.", meinte Manuel und ging rückwärts Richtung Tür. Doch dann fiel mir etwas ein, das ich unbedingt noch brauchte. "Warte!", sagte ich und Manuel sah mich erwartend an. "Das Fläschchen bleibt hier!", stellte ich klar. "Stell es auf den Tresen!" Ich würde es mit Sicherheit nicht berühren, sodass nur Manuels und eventuell Melanies Fingerabdrücke darauf zurückbleiben würden. Der Mann vor mir zögerte, griff dann aber Tatsächlich in seine Jackentasche und holte die Pipettenflasche hervor, um sie wie verlangt auf dem Tresen abzustellen.
"Und jetzt raus!", knurrte ich und ging mit dem erhobenen Messer langsam auf Manuel zu. Stephans Bruder ging rückwärts durch die Küchentür und den Flur entlang, ich drängte ihn immer weiter zur Wohnungstür. "Was wirst du jetzt tun?", wollte Manuel wissen. "Jetzt, wo du alles weißt?" Ich wusste es nicht, aber das konnte ich Manuel definitiv nicht sagen. "Das wirst du schon sehen!", stellte ich klar. "Und wenn du oder Melanie mir jemals wieder zu nahe kommen sollten, befördere ich euch persönlich in die Hölle, wo ihr hingehört!" Manuel verstand genau, was ich damit meinte. Er nickte und griff rücklings nach dem Türgriff, um die Wohnungstür zu öffnen. Er trat hinaus in den Flur und sofort knallte ich die Tür hinter ihm zu. Dann blickte ich durch den Türspion und sah nur noch, wie Manuel die Treppen hinunter rannte. Er war weg. Augenscheinlich jedenfalls und ich erlaubte mir, tief durchzuatmen. Meine Hand tat weh, da ich das Messer weiterhin umklammert hielt und ich ließ es nun los und zu Boden fallen.
Alle Emotionen schienen mich zu überwältigen und ich legte aus Angst, dass er zurückkehren würde, das Kettenschloss vor. Danach eilte ich zu meiner Tasche, um den Schlüssel zu holen, um die Tür zusätzlich abzuschließen. Ich überlegte, was ich nun als nächstes tun sollte. Ich ging erneut zu meiner Tasche und holte mein Handy hervor. Die Polizei rufen würde wohl jeder normale Mensch in Erwägung ziehen, aber stattdessen suchte ich nach einem anderen Kontakt in meinem Telefonbuch. Meine Hände zitterten so stark, dass ich mich mehrfach vertippte.
Als endlich Stephans Name auf dem Display erschien, hielt ich jedoch inne. Was genau sollte ich ihm sagen? Was würde ich auslösen, wenn ich ihm erzählte, was geschehen war. Das würde sein Leben zerstören. Und das seiner Nichte, sowie das seiner Mutter. Manuel und Melanie waren mir egal, aber das galt nicht für die Menschen, deren Leben ich mit meinem Wissen ebenfalls zerstören konnte. Ich musste nachdenken, über alles. Und das hinderte mich daran, die Polizei oder Stephan anzurufen.
Stattdessen suchte ich in meinem Adressbuch einen weiteren Kontakt, bei dem ich schließlich auf 'Anrufen' klickte. "Ja, Elena? Was gibt's?", hörte ich Alexander nicht mal 20 Sekunden später fragen. Als ich seine Stimme hörte, brachen bei mir alle Dämme. "Alex...", schluchzte ich. "Du... du musst.. musst mich abholen!", stammelte ich unter Tränen. "Was ist passiert?", fragte mein Freund geschockt. "Wo bist du?!", verlangte er zu wissen. "Zu... Hause!", brachte ich mühevoll hervor. "Du.. musst sofort kommen... bitte!" Ich konnte ihm nicht erklären was los war, nicht am Telefon. Und ich wusste nicht, ob ich das jemals konnte. Aber er war der einzige, dem ich gerade vertrauen konnte. "Ich bin gleich bei dir!", versprach Alexander und ich legte ohne etwas zu erwidert auf.
Ich rannte dann wie wild durch meine Wohnung und packte ein paar Sachen zusammen, die ich auf die Schnelle finden konnte. Ein paar Klamotten und anderen wichtigen Kleinkram, all das stopfte ich wahllos ich eine Tasche, die ich kurzfristig gefunden hatte. Als es dann klingelte, fuhr ich augenblicklich zusammen. Ich ging zunächst an die Türsprechanlage und es war Alexander, der innerhalb von einer Viertelstunde das Haus erreicht hatte, in dem ich wohnte. Ich sagte nichts, sondern packte einfach meine Handtasche, sowie meine Reisetasche und verließ meine Wohnung. Ich eilte die Treppen hinunter und trat aus dem Haus. Alexander, der neben der Haustür gewartet hatte, beachtete ich nicht. Ich wollte einfach nur weg. So schnell wie möglich.
Zielsicher steuerte ich auf Alexanders Auto zu. "Elena, warte!", rief er und ich hörte, dass er mir folgte. Ich sah mich jedoch panisch um und war froh, das Auto endlich erreicht zu haben. Ohne ein Wort stieg ich ein, Alexander tat es mir gleich. "Sagst du mir vielleicht mal, was los ist?!" Ich schnallte mich jedoch sofort an. "Elena, Hey! Was ist los?!" Alexander machte sich zurecht sorgen, aber ich konnte es einfach nicht erklären. Nicht jetzt. "Bring mich bitte einfach nur hier weg!", schluchzte ich und wagte es nicht, ihn anzusehen.
"Okay.", gab Alexander sich schließlich geschlagen, der er wohl merkte, dass er aus mir jetzt erstmal nichts herausbekommen würde. Wichtig war für mich jetzt nur, von hier weg zu kommen. Und nicht alleine zu sein.

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