Kapitel 2

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Angst hatte ich wahnsinnig, aber selbst der Tod war besser als noch länger hier zu bleiben. Heute war es richtig eskaliert und das würde nun bestimmt noch häufiger passieren als die letzten Monate. Die Gelegenheit schien gegen Mitternacht günstig zu sein. Ich hatte noch alles geputzt, so wie er es von mir verlangt hatte. Er hatte währenddessen so viel Alkohol zu sich genommen, dass er vor dem Fernseher eingeschlafen war.
'Jetzt oder nie!', dachte ich und erhob mich von der Couch, auf der ich die ganze Zeit gesessen war und mich kaum bewegt hatte. Mir tat alles unbeschreiblich weh. Aber ich musste hier weg. Anrufen konnte ich keinen, da wir uns damals gegen einen Festnetzanschluss entschieden hatten und mein Handy in seinem Besitz war. Auch seines hatte er bei sich, sie lagen über ihm auf der Couchlehne. Für mich unerreichbar, ich wollte nichts riskieren. Ich brauchte den Hausschlüssel. Nur hatte er den ebenfalls verschwinden lassen.
Also blieb mir nur noch eins übrig, die Flucht durch ein Fenster. Gerade als ich ein paar Schritte geschlichen war, bewegte er sich plötzlich und ich erstarrte. Ich beobachtete ihn nervös. 'Bitte wach nicht auf, bitte wach nicht auf!', flehte ich lautlos. Und er schlief tatsächlich weiter. Nur war sein T-Shirt ein wenig hoch gerutscht und hatte den Blick auf etwas frei gegeben, dass in seinem Hosenbund steckte. Ich verkniff es mir einen Schrei los zu lassen. Denn ich erkannte das was er bei sich hatte sofort. Ich starrte auf den Lauf einer Waffe.
Wie lange und vor allem woher er die hatte war mir ein Rätsel, aber das musste die Polizei lösen sobald ich eine Anzeige bei ihnen gemacht hatte. Genau da wollte ich nämlich sofort hin, zur Polizei. Ich schlich ins Schlafzimmer und zog dort so leise wie möglich den Rollo hoch. Er durfte nicht aufwachen. Als das geschafft war, öffnete ich das Fenster ebenfalls ganz leise und kletterte auf das Fensterbrett. Gar nicht so einfach, aber ich ignorierte die Schmerzen. Kurz darauf berührten meine Füße, an denen ich keine Schuhe trug, den kalten Boden. Ich war tatsächlich draußen. Und jetzt konnte mich nichts mehr halten. Ich rannte einfach los, ohne wirklich zu wissen wohin. Hauptsache erstmal weg von hier.
Es war dunkel und kalt, ich trug nur ein T-Shirt und eine Leggins und keine Schuhe. Deshalb spürte ich den Boden ganz genau. Es war zwar inzwischen Gras, durch das ich rannte, aber darin lagen Äste oder ähnliches herum. Ich konnte kaum atmen und das laufen an sich war fast unmöglich, so sehr tat mir alles weh.
"Hey!", hörte ich plötzlich eine mir nur zu gut bekannte Stimme schreien. "Scheiße!", schluchzte ich und rannte weiter. Er war doch noch aufgewacht und lief mir hinterher. Den Weg beleuchtete er mit einer Taschenlampe. Und dafür, dass er angetrunken war, lief er noch sehr zielstrebig. Auf einmal ertönte ein lauter Knall und etwas zischte knapp an mir vorbei. 'Ein Schuss!', schoss es mir durch den Kopf. Der hatte die Waffe wirklich eingesetzt und mich nur ganz knapp verfehlt.
So betrunken konnte er dann doch nicht sein. "Du Schlampe, bleib gefälligst stehen!" Doch ich rannte weiter. Den Feldweg entlang zur Straße war eindeutig zu gefährlich, weil da war ich Freiwild und außerdem würde ich da jetzt um diese Uhrzeit sowieso niemanden treffen der mir helfen konnte. Deshalb rannte ich in den angrenzenden Wald. Dort war es gefühlt noch dunkler und ich konnte die Bäume nur noch leicht schemenhaft erkennen. Das führte dazu, dass ich bereits nach ein paar Metern stolperte. Sofort rappelte ich mich wieder auf und rannte weiter.
Ein weiterer Schuss löste sich, er war also immer noch hinter mir her. Die ganzen Äste und Steine bohrten sich in meine Füße, trotzdem trugen sie mich weiter. Immer tiefer in den dunklen Wald hinein. Aber ich hatte mehr Angst vor dem was hinter mir war als vor mir. Er schrie mir immer wieder etwas hinterher, aber es wurde immer undeutlicher und leiser. Er konnte mir nicht mehr wirklich folgen. Ich rannte eine gefühlte Ewigkeit weiter und bekam zunehmend schwerer Luft. Ich konnte immer noch nichts erkennen und bemerkte den leichten Abhang erst, als ich den Halt verlor und hinunter rutschte. Besser gesagt überschlug ich mich mehrfach und verlor das Bewusstsein, noch bevor ich zum Liegen kam.
Ich vernahm ein Geräusch und Berührungen im Gesicht. Sie fühlten sich feucht an und ich wurde davon wach. Benommen öffnete ich die Augen und blickte einem Tier ins Gesicht, einem Hund wie ich erkannte. Dieser hatte mich offenbar abgeleckt und ich setzte mich schnell auf. Mir tat jeder einzelne Knochen weh und ich musste mehrfach blinzeln, bis ich die Augen offen halten konnte.
Ich wusste nicht wo war und schon gar nicht wie ich hierher gekommen war. Mir war bitterkalt und als ich meine Arme sah, erschrak ich ziemlich. Sie waren voll von blauen Flecken  und Kratzern. Ich war außerdem total verdreckt und meine Füße sahen aus, als wäre ich über Scherben oder ähnliches gelaufen. Ich zitterte. 'Wie bin ich hierher gekommen?', fragte ich mich. 'Und vor allem.. wer bin ich überhaupt?' Ich konnte mich an nichts erinnern.
Ein Wort kam mir aber sofort in den Sinn, der Begriff Amnesie. Amnesie bezeichnete eine Form der Störung des Gedächtnisses für zeitliche oder inhaltliche Erinnerungen. Komisch fand ich, dass ich mich an so etwas erinnern konnte, jedoch nicht an wesentliche Dinge. Zumindest hatte ich das Gefühl, dass es da wichtigeres gab. Aber im Augenblick konnte ich damit nichts anfangen. Weder mit diesem Begriff, noch mit der Situation an sich.
Ich wusste nur, dass ich Angst hatte. Todesangst. Das Bellen des Hundes riss mich aus meinen Gedanken. Er bellte sehr laut und unaufhörlich. Auf einmal hörte ich Rufe. "Rex!", rief jemand und mein Herz begann zu klopfen. Ich hatte das Bedürfnis sofort zu flüchten, weshalb ich versuchte auf zu stehen. Das gelang mir erst nach ein paar Versuchen. "Rex!", vernahm ich erneut und plötzlich tauchte ein Mann oben am Hang auf. In den Händen eine Flinte. "Hallo!", rief er. Er meinte mich. "Junge Frau, was machen sie denn da?!" Er klang bedrohlich, weshalb ich zurück wich als er begann den Hang hinunter zu kommen. "Bleiben sie stehen!" Aber ich dachte gar nicht daran. Ich hatte solche Panik, dass ich meinen Plan zu flüchten umgehend in die Tat umsetzte.
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Der Jäger war bereits schon unterwegs, seitdem es hell geworden war. Sein Hund lief immer ein Stück voraus. Jedoch war er irgendwann los gelaufen, der Jäger war sich sicher das er eine Fährte aufgenommen haben musste. Er folgte seinem Hund durch den Wald und blieb an einem Abhang stehen. Dort saß sein Hund neben einer Frau, die von seinem Standpunkt aus schon ziemlich mitgenommen aussah. Er rief ihr etwas zu, aber die Frau hatte offensichtlich Angst und rannte in den Wald. Er konnte sie nicht aufhalten, dafür war sie zu weit weg.
Der Jäger ging trotzdem hinunter zu seinem Hund. Er musste aufpassen, dass er nicht hin fiel, denn es war sehr steil. Die Frau war inzwischen verschwunden, trotzdem entschied sich der Jäger dafür die Polizei zu rufen. Es war nicht normal, dass eine Frau hier umher irrte, zumindest nicht so mitgenommen. Ihr musste offenbar etwas passiert sein. Also rief er die Polizei und machte sich auf den Weg zurück zu seinem Wagen am Waldrand, wo er auf die Beamten wartete.
Diese wurden sofort nach dem Anruf von der Leitstelle informiert. Paul Richter und Stephan Sindera waren in der Nähe, weshalb man sie an funkte. Paul antwortete sofort und erbat die nötigen Informationen. "Ein Jäger hat uns gerade angerufen und erzählt, er habe im Wald eine Frau gesehen. Anscheinend hat sie sehr verängstigt und verwirrt gewirkt, außerdem sei sie verletzt gewesen. Sie ist aber abgehauen, bevor er sie erreichen konnte. Fahrt mal hin und schaut mal, ob ihr sie findet. Wenn sie innerhalb einer Stunde nicht aufgetaucht ist schicken wir euch Verstärkung inklusive Suchhund." Die Beamten fuhren sofort zum Einsatzort und trafen auf den Jäger. Er berichtete ihnen nochmal dasselbe und führte die zwei Polizisten zu der Stelle, wo er die Frau gesehen hatte.
"Sie warten bitte an ihrem Auto, wir werden die Gegend absuchen.", erklärte Stephan und der Jäger machte sofort kehrt. "Meinst du wir finden diese mysteriöse Frau? Der Wald ist riesig!", meinte Paul. "Versuchen müssen wir's.", antwortete Stephan und sie liefen los.
Die Polizisten beschlossen irgendwann sich zu trennen. Fast eine dreiviertel Stunde irrten sie im Wald umher und hielten die Augen nach der Frau offen. Aber sie konnten erst niemanden finden und auf ihre Rufe antwortete ebenfalls niemand. Die Männer hielten die ganze Zeit Kontakt über Funk und hatten beschlossen zurück zum Parkplatz zu laufen. In ihren Augen hatte es keinen Sinn weiter zu suchen, sie brauchten die Unterstützung ihrer Kollegen und der Hunde.
Sie waren weit in den Wald gelaufen, sich die Wege aber gemerkt. Stephan wollte sich beeilen und machte bereits kehrt, als er Äste knacken und Laub rascheln hörte. Zwischen den Bäumen hinter sich sah er nun eine Person, die auf die Beschreibung des Jägers passte. Eine junge Frau mit grauem T-Shirt, Leggins und ohne Schuhe.
Stephan verharrte. Noch hatte sie ihn nicht entdeckt, aber dann meldete Paul sich plötzlich über Funk und das hörte die Frau natürlich ebenfalls. Sie entdeckte ihn und noch bevor er richtig reagieren konnte, eilte sie davon. Er nahm natürlich die Verfolgung auf.

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