Fifty-two - Ertrinken in Perfektion

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Colin

Während ich in der Küche vor mich hin hantierte, hörte ich immer wieder, wie Fabienne leise im Schlaf murmelte. Sie schien generell unruhig zu schlafen, jedes Mal, wenn ich einen Blick aufs Sofa lag, lag sie anders und völlig verspannt.

Einen Moment überlegte, ich sie zu wecken, aber früher oder später würde sie ja sowieso wachwerden. Und außerdem war die Chance, von ihr rausgeworfen zu werden, so kleiner.

Seufzend stellte ich eine Schüssel für Müll auf den Tisch und schaute mich überlegend um, auf der Suche nach irgendwas, was ich vergessen haben könnte. Aber es stand alles auf dem Tisch. Außer der Granatäpfel, aber ich hatte keine Ahnung, wie zur Hölle man die aufschnitt.

Grade als ich doch entschieden hatte, Fabienne zu wecken, fiel mir etwas ins Auge. Die schwarze Mappe. Sie lag in dem Hängeregal ganz hinten unter einigen Suppentellern, als hätte sie sie dort versteckt. Sofort durchschoss die Erinnerung an ihre Liedtexte durch meinen Kopf. Vor allem an die Texte, die ich nicht lesen sollte. Sie hatten mich da ja schon interessiert, aber jetzt taten sie es umso mehr.

Vorsichtig riskierte ich einen Blick auf die Couch, auf der Fabienne schon wieder anders lag und entschied mich, sie mir zu nehmen. Ich öffnete die hintere Seite und sofort warf sich mir eine ganze Legion vereinzelter Zettel entgegen, scheinbar alle bereit, sich auf den Boden zu stürzen, wenn man nicht schnell genug reagierte. Bedacht nahm ich einige der Zettel daraus und schaute sie mir an. Nicht alle schienen Songtexte zu sein. Manche sahen aus wie Gedichte, auf anderen Blättern waren düstere Zeichnungen und...

Einen Moment stockte ich und schaute auf einen langen Fließtext. Ja, und was war das jetzt?
Ich sah es mir genauer an, filterte ein paar der Worte heraus. Es schien ein Brief zu sein. Und zwar kein schöner.
Was sollte ich jetzt genau machen? Fabienne würde mich eigenhändig erwürgen und mir danach jedes meiner Gliedmaßen abschneiden, wenn ich das hier einfach lesen würde, auf der anderen Seite brannte die Neugierde in mir nur so. Ich wollte sie verstehen. Sie, ihre Gegenwart, ihre Vergangenheit. Ich wollte endlich wissen, was sie dazu brachte, sich so zu verhalten, wie sie es nun mal tat. Sich immer wieder zu distanzieren, dabei könnte es so einfach sein.

Zumindest, könnte es einfacher sein.

Aus dem Wohnzimmer, war ein schweres Seufzen zu hören. Sie schien tatsächlich noch immer zu schlafen. Also warum sollte ich diese Chance nicht nutzen und das hier lesen? Noch komplizierter werden, konnte es ja eigentlich nicht mehr. Und obwohl ich mir dabei eigentlich sehr sicher war, begann ich mit einem unguten Gefühl, diesen Text zu lesen.

Du warst da. Vom ersten Tag, vom ersten Schritt und doch dus nie gesehen: Wie ich mich fühle, was in meinem Innern vor sich geht.
Du warst da, jede Sekunde, jeden gottverdammten Atemzug warst du an meiner Seite. Und doch war ich alleine. Denn egal was ich getan hab, du hast nicht hingesehen, bei keinem Lachen, keinem Weinen – Ich werd dich nie verstehn. Du warst da und doch auch nicht, ich bin bei dir, nur ohne dich. Ich lebe mit niemandem, weil ich es nicht kann. Weil ich nicht weiß, wie. Und vor allem weil dus mir so gezeigt hast: Wer alleine ist kämpft, wer Hilfe braucht ist längst gescheitert.
Du warst da, doch hast immer nur nach dir gesehen. Dein Erfolg, dein Spaß, dein Wohlergehen.
Ich sehne mich so sehr nach dir, nur ertrag ich deine Nähe nicht, weil sie mich schonungslos zerbricht. In deinem Armen zu liegen, so selten es auch ist, ist reine Qual, reine Folter und doch wirst du von mir vermisst.
Es tut weh, tut weh, wenn du mir gegenübersitzt nur meckern und erzählen kannst, mehr aber auch nicht. Schreist mich an, erniedrigst mich. Funktionieren: Das soll ich. Du sagst, dann wäre alles gut, dann wäre es vorbei mit deiner Wut – Es ist eine Lüge und du weißt es, denn ich bin ein Fehler und du bereust es. Ich war nie gewollt und man merkt es dir an, nur weiß ich nicht, wie lange ich dich noch ertragen kann.
Wenn ich versuche zu sagen was ich denke, sehe ich in kalten Augen und merke, wie ich Zeit verschwende. Denn du machst einfach weiter, darum schweige ich still. Was kümmert es dich denn schon, was ich will?
Du warst da, gleich neben mir, doch bist du immer schon fern. Und ich kann es nicht ertragen, dich nach Liebe zu fragen. Denn du besitzt sowas doch eh nicht, darum ist es vergeblich.
Du bist meine Mutter, wie kann ich dich so hassen? Du bist wie alles und nichts in einer Person. Der Mensch, den ich am meisten hasse und doch niemals alleine lasse. Aber nicht, weil ich dich liebe so wie ein Kind seine Mutter, nein, nur wenn ich dich verlasse plagen mich Gewissensbisse. Doch nicht nur das: Ich weiß das, egal zu welcher Lebenszeit, alles was dich heut belastet schon morgen auf mich niederprallt.
Denn ich bin Schuld an allem, darum darfst du mich schlagen. Es ist immerhin mein Versagen. Darum darfst du mich wegsperren - Wieso denn auch nicht? Im Ende interessiert sich ja eh niemand für mich. Darum darfst du dir alles nehmen und ich bin nicht stark genug, um dir nicht zu vergeben.
Jedes bisschen Nichtbeachtung ändert eigentlich auch nichts mehr, nur die Hoffnungen die du machst. Sie sind Gift und deine Flasche ist niemals leer.
Du warst da, nur hast du mir nie was beigebracht. Außer gutem Benehmen und dem Hass auf das Leben. Ich beherrsche die Perfektion bis ins kleinste Detail, verabscheue es, nur ist es nie vorbei.
Eine Schlampe, so hast du mich doch genannt, dabei ist in mir noch das Kind, tief in die Dunkelheit verbannt. Du hast mich in mir selbst gefangen, in diesem Käfig aus Stahl. Jeder einzelne Tag mit dir; es ist eine Qual. Und ich schreie, schreie nach Hilfe, nur lass niemanden an mich ran. Und das aus Gründen, die ich niemandem erklären kann.

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