Seventy-one - Sprache der Geheimnisse, Stille des Schocks

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Fabienne

Evelyn hatte Colin und mir das Gästezimmer ganz oben gegeben, es hatte einen Balkon, ein großes Bett und einen Schreibtisch. Eine naturgetreue Plastikpflanze und ein nicht zu definierendes Bild abstrakter Kunst zierten den Raum. Nebenan war ein nettes Bad, mit Eckbadewanne und Dusche; das einzige was sonst noch hier oben war, waren ein kleines Büro und ein Raum, in dem Lilura trainieren konnte.

Nach dem Essen waren wir nach oben gegangen, Colin schwieg und packte die Koffer aus. Ich wollte ihm helfen, aber er ließ mich nicht. Darum saß ich ziemlich bedröppelt auf dem Bett und kam mir nutzlos vor. "Colin!", wiederholte ich bereits zum fünften mal, aber ich erhaschte keinen Blick. Nicht mal ein Wimpernzucken. Nein, nicht mal ein Seufzen bekam ich von ihm.

Dabei hatte ich ja nun wirklich nichts gemacht...
Eigentlich.

"Coliiin!" Genervt seufzte ich auf und fuhr mir durch die Haare. "Kannst du mir mal antworten?"

Colin, der gerade meine T-Shirts in der Hand hatte, verkrampfte sich. Sein hübsches Gesicht war vor Wut völlig verbittert und meine gebügelte Kleidung nur noch ein zusammengeknautschter Ball an Wäsche. "Kannst du mir mal dein Verhalten erklären?!", zischte er, sichtlich bemüht, sich zu beherrschen.

"Welches Verhalten?"

"Das 'Mademoiselle will nicht, das ich mitbekomme, was hier los ist und redet deswegen auf einer Sprache, wie weder Jake noch ich verstehen' -Verhalten! Was soll das?!" Aus seinen blauen Augen blitzte Wut, seine Stimme rollte donnernd, wenn auch gedämpft, durch das Zimmer.

Und ich... Ich konnte es mir nicht verkneifen, höhnisch aufzulachen. Dass das falsch war wusste ich.
Dass ihn das noch wütender machte war mir völlig klar. Aber ich konnte keine andere Reaktion.

Colins Zähne knirschten.

Er starrte mich an und ich wartete nur auf den Moment, in dem er anfangen würde, laut zu werden. Doch bevor das passierte, stand ich auf und lief auf den Balkon. Es musste niemand hören, dass wir stritten.

Immerhin das schien Colin zu verstehen, denn er folgte mir und schloss die Tür. "Schön. Und jetzt? Willst du dich gleich über mich lustig machen oder mir doch vielleicht erklären, was dieser Scheiß soll?" Nun war er lauter. Und es gefiel mir absolut überhaupt nicht.

Denn bei Colin konnte ich seit geraumer Zeit meine Maskerade nicht mehr aufhalten. Und so schossen mir die Tränen schneller in die Augen, als ich reagieren konnte. "Colin..."

"Ja, ja - Ich weiß, dass ist alles nicht so einfach und du brauchst Zeit, aber auf diesen ewigen Vortrag habe ich keine Lust mehr!"

"Schrei mich nicht an", murmelte ich.

Colin knirschte mit den Zähnen, ballte die Fäuste und guckte mich durch eisbergblaue Augen an. Er würde ausflippen, jeden Moment. Aber was genau sollte ich ihm denn sagen? Wenn er alles wüsste, wenn er wirklich alles wüsste, würde er sich von mir trennen. Und zwar ganz sicher.

"Denkst du, es ist schön für mich wieder hier zu sein? Denkst du das?", hauchte ich erschöpft und starrte auf Berlin. "Weißt du, dass wir hier in der Nähe von so vielen Orten bin, mit denen ich nichts als Schmerz verbinde? Und dass ich mit dir da vielleicht einfach nicht drüber reden will, weil..." Meine Stimme brach und die Tränen rollten mir übers Gesicht.

Colin verdrehte die Augen und lehnte sich an die Glastüre. "Weil du mir noch nicht vertraust? Ist angekommen, keine Sorge."

"Nein!" Ich griff nach seinen Händen und versuchte seinen Blick aufzuwärmen. "Vielleicht will ich diese ganze Scheiße einfach nicht mit dir verbinden. Ich will dich nicht ansehen und alles sehen, was ich hier sehe, verstehst du das nicht?"

"Was ich verstehe ist, dass du offensichtlich noch andere Leichen hinterm Berg hältst, die hier näher sind als in New York."

Ich schluckte und sah ihn an. Deutschland. Wie ich fieses verdammte Land hasste!
"Ja, Colin! Ja, genau das tue ich und ich tue es absichtlich. Aber nur weil ich das tue heißt das doch nicht, dass ich dir nicht traue, es ist nur so, dass man manche Sachen nicht aufleben lassen muss und ich will es ehrlicherweise nicht mehr. Ich wollte nicht herkommen, aber Carter hat mich nicht gefragt, er hat es quasi befohlen, also war meine Wahl ja wohl sehr gering, oder? Wenn es nach mir ginge wäre ich nicht hier, gäbe es Lilura nicht, aber lass doch bitte Vergangenheit vergangen sein. Bitte, Colin..." Meine Stimme war zu beginn noch gefestigt, wurde aber unsicherer in dem Moment, in dem ich Colin wieder ansah.

"Werde ich jemals so wichtig für dich sein, dass du mir all das erzählen kannst, Kätzchen?"

Ich ballte die Fäuste und drehte mich von ihm weg um in die schwarze Nacht zu starren, die Berlin in Dunkelheit tauchte, ohne nur das Scheinen eines einzigen Sternes hindurchzulassen. Warum war eine Lösung nur so weit weg?

Und warum war die Gefahr, dass jede meiner schönen, schönen Lügen plötzlich auffliegen würde, so nah. Wann war all das so außer Kontrolle geraten?

Wann waren wir an dem Punkt angekommen, an dem Colin Macht im Sinne von Vertrauen über mich hatte?

Wann?

... Wann?

"Du bist mir so wichtig, dass ich es dir nicht erzähle. Ist das denn gar nichts wert?", murmelte ich, selbst wissend, dass diese Worte nur für mich und nicht für ihn Sinn ergaben.

Er sagte nichts. Die Stille malte genau so schwarz wie die Nacht und zerstückelte mein ängstliches Herz. Ich konnte es spüren, wie sich eine Art der Panik in meinem Magen ausbreitete und in meine Arme, in meine Hände floss, jene wurden bitter kalt, so sehr, dass ich meine Fingerspitzen nicht mehr spürte.

"Kätzchen..."

Ich zuckte heftig zusammen, als Colin meinen Rücken an seine Brust zog und nach meinen eisigen Händen griff. "Verdammt bist du kalt! Komm her..." Er sah sich kurz um, fand wohl eine Decke und legte sie mir um die Schultern. Erleichtert antwortete mein Körper mit einem Zittern. "Colin diese Reise wird uns vielleicht auseinanderbringen. Versuch doch zumindest, mich zu verstehen: Je mehr du über mich weißt, umso mehr Gründe hast du, dich von mir zu trennen." Mein Kopf lehnte an seiner starken Brust, ich lauschte seinem Herzschlag und fühlte mich so sicher, auch wenn meine Beziehung nur ein Haar breit davon entfernt war, über das Geländer dieses Balkons zu springen.

"Du weißt, dass das nicht stimmt."

"Es stimmt. Colin, wenn du mit in diese Firma kommst, solltest du wissen, dass..." Ich brach ab und versuchte, mich zu fangen, bevor eine Träne meine Wangen herunterrollte. "Dass... Du solltest wissen, dass Cecile Lefevre -"

"Was ist mit ihr? Kennst du sie?"

"Sie ist meine Mutter, Colin."

Everyone has SecretsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt