1. Kapitel

49 4 4
                                    

Florian Neuhaus wachte auf und wusste nichts mehr.
Er kam sich vor als hätte man ihn an den Haaren aus einem ewigen Fluss des Schlafens gezogen.
Das Erste was er durch seine geschlossenen Lider wahrnahm war gleißendes Licht. Sein Kopf tat höllisch weh. Er spürte jedes einzelne Körperteil vor Schmerzen. Das zweite waren die Stimmen, die sich, seiner Meinung nach viel zu laut, neben ihm unterhielten.
„Heute sind es 3 Monate."
„Die Ärzte sagen er kann jeden Moment aufwachen."
„Das haben sie schon letzte Woche gesagt und davor die Woche auch", die Stimme, eindeutig männlich, war vor Trauer rau. „Ich verliere die Hoffnung."
„Ich glaube an ihn, er ist ein Kämpfer. Er schafft das."
Die dritte Sache, die er bemerkte, und die ihn schließlich dazu brachte seine schweren Lider zu heben, war die Tatsache, dass sein Kopf wie leer gefegt war. Es war nicht die typische kurze Leere, die einen überfiel, wenn man gerade bei jemandem übernachtet hatte und verwirrt war, weil man nicht zu Hause aufgewacht war.
Das einzige woran er sich mit größter Sicherheit erinnerte, war sein Name: Florian, oder Flo, wie ihn seine Freunde und Familie nannten.
Der Rest war einfach weg. Sein Atem wurde schneller, er bekam Panik. Er riss die Augen auf und sah nur weiß. Die Decke weiß, die Lampen weiß, das Bett, in dem er offensichtlich lag; weiß.
Die Stimmen, die bis eben immer noch diskutiert hatten, verstummten. Irgendetwas neben seinem Bett begann zu piepen, was nicht gerade dazu bei trug, dass er sich beruhigte.
„Flo?", ein Gesicht schob sich in sein Sichtfeld, ein Mann, den er nur verschwommen erkennen konnte.
„Nadine, er ist wach, hol einen Arzt", eilige Schritte, die sich entfernten.
„Bleib ganz ruhig liegen", der Mann versuchte ein beruhigendes Lächeln. „Der Arzt kommt gleich."
Flo schloss seine Augen wieder und versuchte ruhiger zu atmen. Er hatte keine Ahnung wo er war, wer diese Menschen waren, er konnte noch nicht einmal sagen, wie alt er war. Doch wenn er richtig zugehört hatte und nicht irgendeine falsche Schlussfolgerung gezogen hatte, befand er sich in einem Krankenhaus. Komisch, dass er noch wusste was das war.
Er versuchte sich abzulenken, an irgendetwas anderes zu denken, als an dieses Piepen neben seinem Bett.
In diesem Moment wurde die Tür geöffnet. Obwohl es ihm schwerfiel, öffnete er seine Augen. Wieder konnte er nur ein paar verschwommene, mal wieder weiße, Gestalten erkennen, doch als er mit Mühe ein paar mal blinzelte, konnte er drei Ärzte erkennen, neben ihnen eine Frau, die nervös mit der kleinen Tasche in ihrer Hand herumspielte und noch jemanden, wohl eine Krankenschwester, die sich an etwas neben seinem Bett zu schaffen machte und das Piepen verstummen ließ.
Die Ärzte warteten einen Moment, ließen sich von ihm mustern, bevor der in der Mitte, ein großer, schon ein wenig in die Jahre gekommener Mann, mit leuchtend grauen Augen, zu sprechen begann:
„Guten Tag. Mein Name ist Doktor Harrison. Ich bin dein behandelnder Arzt. Kannst du dich noch an irgendetwas erinnern, was passiert ist?"
Flo schüttelte den Kopf. Ich kann mich an gar nichts mehr erinnern wollte er sagen. Doch als er den Mund öffnete, fühlte sich seine Zunge an wie Sandpapier und er brachte nur ein Krächzen heraus.
Der Mann, der eben mit ihm gesprochen hatte, hielt ihm eine Flasche an die Lippen und er trank ein paar Schlucke, bevor er es ein weiteres Mal versuchte. „Ich...", er räusperte sich. „Ich weiß nichts mehr." Seine Stimme klang heiser, als hätte er seit Ewigkeiten nicht mehr geredet.
Die Ärzte wechselten einen Blick. „Wie meinst du das? Bezüglich des Unfalls ist es ganz normal, wenn du nichts mehr weißt, dein Gehirn löscht automat..."
Flo unterbrach ihn mit einem Kopfschütteln. Er hatte jetzt nicht die Geduld ihn höflich ausreden zu lassen. Außerdem wurden seine Kopfschmerzen immer schlimmer und obwohl er die letzten Monate durchgängig geschlafen hatte, war er erschöpft.
„Ich meine...", wieder musste er sich räuspern, weil seine Stimme ihm nicht gehorchen wollte. „Das Einzige woran ich mich erinnere ist mein Name."
Die Frau, die neben den Ärzten stand, wurde weiß vor Schreck. Der Mann, der offenbar auf der Bettkante gesessen hatte, stand auf und starrte ihn an: „Du weißt nicht mehr wer ich bin?"
Plötzlich war Flo ihr Blickkontakt unangenehm und er richtete den Blick nach oben, an die Decke, doch er schüttelte den Kopf.
„Du hattest ein schweres Schädel-Hirn-Trauma", erklang die Stimme des Arztes. „Und einen Schädelbruch. Da kann es zu einer posttraumatischen Amnesie kommen. Wir werden noch ein paar Untersuchen mit dir machen. Ich gehe zum jetzigen Zeitpunkt allerdings nicht davon aus, dass die Schädigungen bleiben. Ruh dich jetzt erst einmal aus, ich werde morgen nochmal nach dir sehen." Flo nickte und schloss seine Augen.
„Dürfte ich kurz mit ihnen sprechen?", er wusste, das die Worte nicht an ihn gerichtet waren, sondern an den Mann und die Frau. Seine Eltern? Vielleicht.
„Alles gute", sagte eine weitere Stimme irgendwo vor ihm. Er brauchte einen Moment, bis er verstand, dass die Worte an ihn gerichtet gewesen waren. Es war wohl einer der anderen Ärzte gewesen, die vor ihm gestanden hatten. Er hätte fast vergessen, dass sie hier waren.
Vergessen. Das Wort sprang ihm noch während er einschlief im Schädel herum. Er hatte alles vergessen...

Doktor Harrison lief mit wehendem Umhang in seinem Büro auf und ab, ein Buch in der Hand. Der Fall dieses Jungen machte ihm mehr zu schaffen, als er sollte. Er war Arzt, da hatte Sentimentalität zwischen ihm und dem Patienten nichts zu suchen. Doch dieser Fall war anders als andere. Denn der Junge war kein anderer als der Prinz von Agetaiso.
Der Prinz, der König, dem er später einmal dienen würde, wenn er zurück in seiner Heimat war. Wenn er mit dem Leben auf der Erde abgeschlossen hatte.
Er hatte zuerst gedacht er hätte sich geirrt. Als sie ihn nach dem Unfall eingeliefert hatten, mit Blut bedeckt, das ihm aus einer Kopfwunde über das Gesicht gelaufen war, hatte er gedacht er würde ihm einfach nur ähnlich sehen. Doch er hatte sich nicht geirrt.
Der Junge konnte gerade mal ein, zwei Jahre auf der Erde sein. Wenn er wirklich alles vergessen hatte... Das war eine Katastrophe. Denn dann kannte er weder seine wahre Vergangenheit, noch seine Bestimmung. Noch nie hatte der Doktor von solch einem Fall gehört, nicht auf der Erde und genauso wenig in seiner Heimat.
Er blieb stehen und blätterte eine Seite in dem Buch um. Amnesie war ein kompliziertes Thema. Er hatte Begabungen, das hatte jeder aus Agetaiso. Bei ihm war es Heilung. Kleinere Verletzungen konnte er durch Hand auflegen sofort heilen. Bei größeren Verletzungen, wie dem Schädelbruch, hatte es bedeutend länger gedauert. Aber auch sowas schaffte er. Doch bei Amnesie konnten seine heilenden Hände nichts tun. Das war ähnlich, wie wenn er versucht hätte, eine psychische Krankheit zu heilen. Er konnte den Prozess unterstützen, ja, aber nur durch die herkömmlichen Mittel auf der Erde und mit nichts was er aus der Heimat kannte. Den Rest musste die Zeit tun.
In diesem Moment öffnete sich die Tür hinter ihm und sein Kollege kam herein. Er war hier auf der Erde sein bester Freund. Natürlich kam er nicht an seine Freunde in Agetaiso heran, doch er war trotz allem ein sehr guter Kumpel.
"Hallo", er lächelte und schloss die Tür hinter sich. "Hi Andreas", antwortete Doktor Harrison. Der Blick seines Freundes fiel auf das Buch in seinen Händen. "Komplizierter Fall?" Doktor Harrison, mit einem mal vom Bewegungsdrang verlassen, seufzte und ließ sich hinter seinen Schreibtisch auf einen Stuhl fallen. "Du sagst es. Erinnerst du dich noch an den Fall von dem Jungen, der den schweren Unfall hatte?" Andreas Lorenzen lächelte: "Kommt nicht so selten vor, dass Jungen eingeliefert werden, die schwere Unfälle hatten. Welchen meinst du?" Doktor Harrison schlug das Buch zu und lehnte sich zurück: "Den, der seit 3 Monaten im Koma liegt und der heute aufgewacht ist."
"Das Fußballtalent, der letzte Saison so durchgestartet ist?" Er nickte nur schweigend. "Ist doch gut, dass er wieder aufgewacht ist oder? Du hast doch damit gerechnet." "Ich hab aber nicht damit gerechnet, dass er ohne Erinnerungen aufwacht", stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sein Freund zog die Augenbrauen hoch. "Ohne Erinnerungen? Komplett?"
"Null, niente", bestätigte er. "Das einzige was er noch weiß ist sein Name."
Andreas schloss die Augen: "Das ist nicht gut. Weißt du woran es liegt? Hast du irgendetwas übersehen?"
"Ich übersehe nie Sachen", knurrte Doktor Harrison. Dann atmete er tief durch: "Ich werde ihn morgen nochmal ins CT schicken. Vielleicht sehen wir ja dann etwas. Ich hab ihm jetzt erstmal gesagt er soll sich ausruhen. Er war schon nach einem 5 Minuten Gespräch komplett erschöpft."
"Kein Wunder, wenn er 3 Monate im Koma lag." Eine Weile herrschte Schweigen. Dann: "Was hast du den Eltern gesagt?"
"Das ich alles in meiner Macht stehende tun werde", antwortete Doktor Harrison, doch bei dem Wort Eltern waren seine Gedanken schon wieder woanders hin geglitten. Zu den wahren Eltern von Florian. Dem König und der Königin von Agetaiso. Er bezweifelte nicht, dass sie um das Schicksal ihres Sohnes bangten. Wenn er starb, würde er zwar zu ihnen zurück kehren, doch wenn er nur ein Jahr überlebte, würden man ihn nie als Thronfolger akzeptieren. Er wusste seine Eltern würden, sie durften gar nicht, eingreifen. Sie mussten einfach nur zuschauen. Doch er selbst würde garantiert nicht zuschauen. Er würde alles in seiner Macht stehende tun, um ihm zu helfen. Selbst wenn das bedeutete Nacht für Nacht über Büchern zu hocken und nach Lösungen zu suchen. Schlussendlich würde er es schaffen. Er würde nicht zulassen, dass Florian sein Leben auf der Erde ohne Erinnerungen an seine Heimat verbrachte. Denn dann würde ein Teil von ihm, selbst wenn er starb, immer auf der Erde verweilen und er würde nie ganz zurückkehren. Und das durfte er nicht zulassen.

AngelfootWo Geschichten leben. Entdecke jetzt