2. Kapitel

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Als Flo das nächste Mal die Augen öffnete, waren seine Kopfschmerzen ein wenig abgeflacht und es befand sich keiner in seinem Zimmer. Gut so. Er brauchte Zeit für sich selbst. Zeit, um über alles nachzudenken und versuchen sich an irgendetwas außer seinen Namen zu erinnern.
Wie hieß er? Flo oder Florian, wenn man es genau nahm.
Wie alt war er? Er glaubte nicht, dass er unter 18 war. Irgendetwas in seinem Unterbewusstsein sagte ihm das.
Wie sah er überhaupt aus? Er hatte keine Ahnung was für eine Augenfarbe er hatte und genauso wenig wusste er über seine Haare oder sein Gesicht, seine Größe.
Etwas benommen starrte er an die Decke. Ihm war mit einem Mal übel. Was war, wenn er sein Gedächtnis nie mehr zurück bekam? Diese Leute konnten ihm alles erzählen was sie wollten und er musste ihnen vertrauen und glauben, was sie erzählten. Ruhig bleiben, sagte er sich selbst. Durchdrehen brachte nichts.
Er atmete tief durch, versuchte nicht daran zu denken, was alles schief gehen konnte und blickte sich in seinem Zimmer um. Er erkannte ein Intensivzimmer. Klar, wenn er im Koma lag würden sie ihn wohl kaum in ein normales Stationszimmer legen. Rechts neben ihm war ein Monitor angebracht. Neugierig starrte er darauf. Offenbar zeigte das seinen Herzschlag an.
Sein Blick wanderte zu einer Flasche, die, fast leer, neben seinem Bett hing und von der ein Schlauch zu einer Nadel in seinem Arm führte.
Sein Blick wanderte weiter und blieb an seinem Zeigefinger hängen, an dem eine Art Klammer befestigt war. Stirnrunzelnd betrachtete er sie. "Damit messen wir deinen Sauerstoff im Blut", ertönte plötzlich eine Stimme von der Tür. Flo zuckte zusammen und wandte sich um, bis er eine junge Krankenschwester erblickte.
Sie grinste. "Und bevor du fragst, das in der Infusion ist nur Flüssigkeit, wir konnten dich hier ja nicht vertrocknen lassen." Auch er lächelte: "Hat nicht so ganz geklappt, nach dem zu urteilen, wie trocken mein Mund ist." Sie stieß tatsächlich ein kleines Lachen aus. "Soll ich dir was zu trinken holen?" Er nickte.
Sie verschwand und kehrte nur Sekunden später zurück, mit einer Wasserflasche in der Hand zurück. Er streckte die Hand danach aus, denn jetzt hatte er auf einmal einen riesigen Durst, doch die Schwester schüttelte den Kopf. "Du lagst drei Monate lang im Koma. Ich glaub kaum das du die halten kannst und wenn sie dir dann runterfällt ist dein ganzes Bett nass. Der Doktor würde mich umbringen wenn wir dich jetzt umbetten müssten. Das würde dir in deinem Zustand gar nicht gut tun."
Er protestierte: "Ach kommen Sie, ich glaub schon, dass ich noch alleine trinken kann."
Wieder stieß sie dieses kleine Lachen aus. "Na gut, dann beweis es mir und dreh die Flasche auf. Wenn du das schaffst darfst du auch gerne alleine trinken. Und du darfst mich übrigens gerne duzen. Ich kümmere mich um dich seit du hier bist, da würde ich es nur komisch finden wenn du mich siezt."
"Danke äääh...", sein Blick fiel auf ihr Namensschild. "Linda." Sie lächelte und reichte ihm die Wasserflasche. Ohne zu zögern versuchte er den Deckel abzudrehen. Zu seinem Erstaunen war es schwer, beinahe unmöglich für ihn diesen zu bewegen. Linda grinste, nahm ihm die Flasche aus der Hand und drehte sie mit einem Handgriff auf, bevor sie sie an seine Lippen hielt.
"Dadurch, dass du die letzten Monate damit verbracht hast einfach nur herumzuliegen, haben sich deine Muskeln abgebaut", erklärte sie, während er gierig ein paar Schlucke trank. "Wir haben versucht den Prozess ein wenig aufzuhalten, aber viel kann man da nicht machen." Sie ließ die Flasche wieder sinken und starrte ihn an, mit einem mal war das Lachen aus ihrem Gesicht verschwunden: „Hast du wirklich alle deine Erinnerungen verloren?" Flo nickte: „Mein Name ist das einzige an das ich mich erinnern kann. Ich weiß noch nicht mal mehr wie ich aussehe."
Sie zog überrascht die Augenbrauen hoch. "Na dagegen lässt sich doch etwas machen", sie stand auf. "Bin gleich wieder da."
Er schaute ihr hinterher. Was hatte sie vor? Egal was es war, sie war wirklich nett und kümmerte sich gut um ihn. Vielleicht konnte sie ihm die ein oder andere Frage beantworten, die er anderen nicht zu stellen wagte. Zum Beispiel was es mit diesem Unfall auf sich hatte, bei dem er sich so schwer verletzt hatte. Irgendwo musste er schließlich anfangen.

Wieder kehrte Linda nur Sekunden später zurück, dieses mal hatte sie etwas anderes dabei. Einen Spiegel?
"Was soll ich denn damit?", fragte er. "Du wolltest doch wissen wie du aussiehst. Darf ich?", er rückte ein Stück zur Seite - selbst das fiel ihm schwer - und ließ sie auf der Bettkante sitzen.
Sie hielt ihm den Spiegel hin und nickte aufmunternd.
Zögernd nahm er den Spiegel und schaute sich an. Sein Gesicht war ein wenig eingefallen, allerdings nicht so sehr, wie er nach einem 3 Monate langen Koma erwartet hatte. Auch seine Haare waren kürzer als er gedacht hätte. Sie waren von einem weder besonders hellen, noch besonders dunklen braun und hingen ihm strähnig ins Gesicht. Seine Augen hatten ungefähr dieselbe Farbe. Ansonsten gab es nicht viel zu sagen, normale Nase, normaler Mund. Nur an seinen Ohren bemerkte er eine Art knick, den er ebenfalls eingehend betrachtete, bevor er Linda den Spiegel zurück gab. Dann lies er sich in seine Kissen zurück sinken.
Linda lächelte mitfühlend: "Ist grade ein bisschen viel auf einmal oder?" Er nickte nur stumm, mit einem mal unfähig zu sprechen.
Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er spürte wie tröstend warm sie sich anfühlte. "Wenn du irgendwelche Fragen hast...", sie zögerte. "Ich kenn dich zwar noch nicht lange und 99 Prozent unserer Zeit zusammen hast du geschlafen, aber bei den grundlegenden Sachen kann ich dir bestimmt helfen." Er rang sich ein kleines Lächeln ab: "Danke." Sie nickte ihm zu, stand auf und verließ das Zimmer, als hätte sie gespürt, dass er einen Moment alleine brauchte.
Flo schloss die Augen. Unwillkürlich wanderten seine Gedanken zu dem Leben, das er einmal geführt haben musste. Auf welche Schule war er wohl gegangen? War er ein Außenseiter gewesen oder hatte er viele Freunde gehabt? Hatte er überhaupt irgendeinen Freund gehabt? Vielleicht sogar eine Freundin? Wie viele Partys hatte er wohl schon erlebt, an die er sich nicht mehr erinnern konnte? Wie viele Klassenfahrten?
Am liebsten hätte er sich zusammen gerollt, wäre eingeschlafen und nie wieder aufgestanden. Er vermisste das Leben, das er einmal gehabt hatte. Die Gedanken in seinem Kopf wirbelten nur so herum, sodass er überzeugt davon war nie einschlafen zu können. Doch noch während er sich Gedanken über sein Lieblingsessen machte, übermannte ihn der Schlaf und er glitt hinüber in eine Welt voller Träume.

Er träumte von einem Wald. Es war Winter. Schnee rieselte vom Himmel. Ab und zu gab eine der Kiefern dem Gewicht des Schnees nach und entlud eine ganze Ladung des schweren Zeugs. Er lachte und rannte gleichzeitig. Er wusste, er jagte etwas hinterher, er wusste nur nicht was. Flink wie ein Hirsch sprang er hin und her, wich den Bäumen aus. Er konnte nicht viel älter als 5 oder 6 Jahre sein. In diesem Moment rief er etwas, doch der Wind trug seine Worte schnell davon, sodass nicht einmal er selbst sie verstehen konnte. Keuchend blieb er stehen. Die Böen wurden immer stärker und damit auch das Schneetreiben. Obwohl er eben noch wegen dem wilden Rennen geschwitzt hatte, war ihm auf einmal eiskalt. Zitternd schlang er sich die Arme um den Körper. In seinen Wimpern verfingen sich Schneeflocken. Der Schnee war mittlerweile so dicht geworden, dass er nichts mehr erkennen konnte. Wo war er her gekommen? Sein Atem bildete kleine Wölkchen. Selbst diese erkannte er nur für einen Moment. Ihm war schon so kalt, dass er seine Zehen nicht mehr spüren konnte. Was tat er überhaupt hier? Wie war er hierher gekommen? Zitternd drehte er sich einmal im Kreis. Überall um ihn herum waren Bäume. Sie schienen bedrohend über ihm aufzuragen. Falls er auf einem Weg unterwegs gewesen war, konnte er diesen unmöglich erkennen. Zögernd machte er einen Schritt vorwärts, in die Richtung, aus der er seiner Meinung nach gekommen war. Prompt blieb er mit seinem Fuß an irgendetwas - einer Wurzel? - hängen und stolperte. Ohne zu sehen, was vor ihm kam, fing er sich mit den Händen ab. Einen Moment später spürte er die Eiseskälte durch seine Handschuhe dringen. Schnell versuchte er aufzustehen, doch überall um ihn herum war es weiß. Er wusste nicht mehr wo oben und unten war und war gefangen. Aus irgendeiner Richtung ertönte ein Schrei. Er glaubte seinen Namen zu hören: "Flooo!" Wage erkannte er, wie verzweifelt die Stimme klang und versuchte zurückzurufen, doch die eisige Kälte schien ihn einzukesseln und zu verhindern, dass er überhaupt irgendetwas tat. Er wimmerte und betete, dass es aufhören würde. Er würde jede Hitze dieser Kälte vorziehen. Wieder erklang eine Stimme. Doch dieses Mal war es eine andere und sie war viel näher. "Florian! Florian wach auf!"

Immer noch wie wild keuchend schlug Flo die Augen auf. Linda hatte sich über ihn gebeugt und hielt ihn mit beiden Händen an den Schultern fest. Sie war kreidebleich. "Was war das denn?", fragte sie. Ihr Atem ging beinahe genauso schnell wie seiner. "Hattest du einen Albtraum?"
Er nickte, unfähig zu sprechen. In diesem Moment stürzte Doktor Harrison ins Zimmer, offenbar von dem Piepen, das der Monitor, auf dem sein Herzschlag angezeigt wurde, ausstieß, angezogen. "Was ist denn hier los?!", fauchte er. Flo erstarrte bei dem eisigen Blick, den er Linda zuwarf.
"Er hatte einen Albtraum", antwortete sie. "Ich hab ihn nur aufgeweckt." Erst als sie seine Schultern losließ, bemerkte er, dass sie sie noch immer umklammert hielt. Sie wich dem durchdringenden Blick des Arztes aus, mit einem Mal schien sie schnell aus dem Zimmer zu wollen: "Ich hole etwas zur Beruhigung."
Doktor Harrison wartete, bis sie gegangen war, dann zog er einen Stuhl heran und setzte sich verkehrt herum darauf. Er musterte Flo: "Kannst du mir sagen, worum es bei diesem Traum ging? Es könnte ein Hinweis darauf sein, dass deine Erinnerungen zurückkehren."
Flo atmete einmal tief durch. "Ich... Ich weiß nicht."
"Du brauchst keine Einzelheiten zu erzählen", die Stimme des Doktors war sanft. "Nur grob. Dann kann ich deine Familie fragen ob es ein ähnliches Ereignis in deiner Vergangenheit gegeben hat."
Flo starrte auf seine Hände. Sie zitterten. "Ich... war in einem Wald." Als er stockte fragte der Arzt nach: "Was für ein Wald?" "Kiefer... glaube ich", antwortete Flo. Er hob kurz den Blick. Vielleicht bildete er es sich nur ein, doch die Augen von Doktor Harrison schienen aufzuleuchten.
"Es war Winter", erzählte er weiter.
Ein zufriedenes Nicken, wieder ein nachhaken: "Und weiter?" Flo schloss die Augen, hatte die Landschaft sofort wieder vor Augen und begann sie seinem Arzt zu beschreiben: "Ich bin hinter irgendetwas her gerannt. Aber dann... dann ist der Schnee immer dichter geworden." Konzentriert kniff er die Augen noch fester zusammen: "Und... und...", die Einzelheiten schienen zu verschwimmen. Sein Kopf begann wieder zu schmerzen. Er presste sich die Finger gegen die Schläfen. "Ganz ruhig", die Stimme schien von weit weg zu kommen. "Tief durchatmen. Beruhige dich." Doch Flos Atem wurde immer schneller, als die Konturen seines Traums immer schneller von scharf zu unscharf wechselten.
Immer noch aus weiter Ferne hörte er wie die Tür geöffnet wurde und die Stimme des Doktors: "Linda, das Beruhigungsmittel! Schnell!" Eilige Schritte die näher kamen, die Kopfschmerzen wurden immer schlimmer.
Plötzlich spürte er wie irgendeine Flüssigkeit in seinen Arm sickerte. Beinahe im selben Moment fühlte er wie sein Herzschlag langsamer und das Atmen leichter wurde. Doch die Spritze brachte auch die Müdigkeit zurück und nur wenige Sekunden später war er schon wieder eingedämmert.

Hey Hey Hey! Ich hoffe euch gefällt die Story bis jetzt. Ich weiß, es ist noch nicht viel Aktion drin, aber das wird sich (hoffentlich) bald ändern :)

AngelfootWo Geschichten leben. Entdecke jetzt