Die Fahrt zum Krankenhaus dauerte nicht lange. Es kam Flo vor, als wären erst ein paar Sekunden vergangen, als der Wagen schon wieder hielt. Anscheinend wusste man im Krankenhaus schon Bescheid, denn er wurde bereits von einem Pfleger mit einem Rollstuhl erwartet. Auch Doktor Harrison stand daneben. Als Flo ihn sah, breitete sich ein wenig Erleichterung in ihm aus. Während der Pfleger ihm half, sich in den Rollstuhl zu setzen, brachten die Sanitäter Doktor Harrison auf den neusten Stand. Sie sprachen leise miteinander, sodass Flo nicht alles verstand, aber der Arzt warf immer wieder besorgte Blicke in Flos Richtung. Als sie ihr Gespräch schließlich beendet hatten, kam sie zusammen zu Flo. Doktor Harrison versuchte Flo ein aufmunterndes Lächeln zuzuwerfen: „Na dann, wollen wir mal oder?"
Sie verabschiedeten sich, dann gingen sie gemeinsam mit dem Pfleger, der Flo und den Rollstuhl übernahm, in das Gebäude und landeten schließlich in einem Flo unbekannten Behandlungszimmer. Doktor Harrison zog sich einen Stuhl heran, während Flo auf der Liege Platz nahm. Der Arzt musterte Flo von oben nach unten mit gerunzelter Stirn: „Wie geht's dir?"
Flo zuckte mit den Schultern. Er hätte ihm gerne von den zurückgekehrten Erinnerungen erzählt und er wusste, er konnte seinem Arzt vertrauen, aber bei dem Pfleger war er sich nicht so sicher. Er war sich generell nicht sicher, wem er wirklich vertrauen konnte. Deshalb beschränkte er sich bei seiner Antwort auf das Körperliche: „Bisschen schwindlig und schlecht. Und Kopfschmerzen. Ansonsten geht's."
Doktor Harrison nickte, dann rollte er auf seinem Stuhl ein Stück zurück und zog eine Schublade auf. Als er sah, dass der Pfleger immer noch im Raum stand, zog er überrascht die Augenbrauen nach oben, doch als er sprach, war er freundlich: „Sie können jetzt gehen Danny. Ich komm hier alleine klar."
Der Pfleger nickte, warf Flo noch einen Blick zu und schlurfte dann aus dem Zimmer. Nun zog auch Flo die Augenbrauen hoch: „Nicht sehr gesprächig der Kerl." Doktor Harrison lachte, kramte in der Schublade und zog schließlich etwas heraus: „Stimmt. Aber er hat gerade erst hier angefangen, vielleicht ändert sich das noch." Schmunzelnd drehte er sich wieder zu Flo: „Vielleicht denkt er aber auch jeder hier ist so gesprächig wie Linda und deshalb redet er extra nicht, weil er sowieso nicht zu Wort kommen würde. Soo, nicht erschrecken jetzt."
Flo zuckte zusammen. Zum dritten Mal wurde ihm mit der Taschenlampe in die Augen geleuchtet. Als Antwort brummte er nur.
Doktor Harrison hob den Kopf, schaute ihm in die Augen und steckte die Taschenlampe in die Jackentasche seines Kittels. Dann seufzte er: „Also bis jetzt sieht das alles ziemlich gut aus. Bis jetzt konnten wir nur eine leichte Gehirnerschütterung feststellen. Ich würd dich aber trotzdem gerne ein oder zwei Tage hier behalten, gerade wegen deiner Vorgeschichte." Er zögerte: „Du... weißt noch alles? Keine Erinnerungslücken?"
Flo schüttelte den Kopf: „Eher so das Gegenteil." Er spürte, dass der Arzt ihn anschaute, hielt den Blick aber auf seine Fußballschuhe gesenkt, die er immer noch trug. „Wie meinst du das?"
Jetzt hob Flo doch den Kopf: „Ich weiß alles." „Alles?" Er wusste, warum Doktor Harrison nachfragte. Deshalb bemühte er sich um eine ruhige Stimme, als er noch einmal wiederholte: „Alles." Er holte tief Luft: „Wo ich herkomme, was ich hier mache, wer ich bin. Alles."
Jetzt schauten sie sich direkt in die Augen. Flo sah den Kampf, den Doktor Harrison mit sich austrug, bevor er sich räusperte: „Flo... ich-" Flo unterbrach ihn mit einem Kopfschütteln, ein bitteres Lächeln auf den Lippen: „Sie haben nichts falsch gemacht. Vielleicht war das einfach so eine Art Prüfung. Als Thronfolger und so. Allerdings...", er verstummte und warf einen Blick aus dem Fenster, während er überlegte, wie viel er dem Arzt anvertrauen konnte. Gerade, als er tief Luft holte und anfangen wollte zu erzählen, klopfte es.
Flo und der Doktor tauschten einen Blick aus, bevor der Arzt „herein", rief. Die Tür öffnete sich langsam und Linda trat herein. Sie lächelte vorsichtig, in ihren Augen schien Besorgnis zu liegen. „Hey... ich hab gerade erst davon gehört. Stör ich euch?" Doktor Harrison warf Flo noch einen schnellen Blick zu, der auf der Liege saß und immer noch blass aussah, dann schüttelte er den Kopf. Vielleicht dachte er, ein gutes Gespräch unter Freunden könnte Flo helfen mit allem klar zu kommen. „Alles gut, komm ruhig rein."
Sie nickte und schloss die Tür hinter sich, während er sich noch einmal an Flo wandte und mit leiser Stimme sagte: „Wir reden später nochmal, ok?" Flo schluckte und nickte nur. Damit drehte der Arzt sich um, verabschiedete sich auch von Linda und ließ die beiden alleine.
Flo starrte auf seine Schuhe. Es war still im Raum. Er wusste, sie wartete darauf, dass er den ersten Schritt machte. Langsam hob er den Kopf und schaute ihr ins Gesicht. Das vorsichtige, freundliche Lächeln war verschwunden. Sie stand mit verschränkten Armen vor ihm, die Augenbrauen leicht hochgezogen, immer noch lächelnd, aber arrogant. Sie war es gewohnt sich die Sachen zu holen, die sie wollte. Sie war Macht gewohnt.
Flo war immer noch übel, auch wenn er sich ziemlich sicher war, dass das nicht mehr von der Gehirnerschütterung kam. Immer noch herrschte Schweigen zwischen ihnen, das Flo schließlich brach: „Auto überhitzt. Wie konnte ich nur so blöd sein?"
Ihr Grinsen wurde breiter. Sie zog sich den Stuhl, auf dem Doktor Harrison bis eben gesessen hatte, mit Schwung heran und setzte sich verkehrt herum darauf. Es war nicht nur ihr Lächeln, das sich verändert hatte. Es war ihre ganze Körpersprache. Sie war nicht mehr die Linda, die Flo nach dem Unfall kennengelernt hatte. „Sag bloß das ist das einzige, was dir aufgefallen ist."
Flo stieß ein bitteres Lachen aus, dann zählte er auf: „Am Gedächtnis rumpfuschen. Eure Spezialität. Dir war ständig kalt. Und die Träume die ich ständig hatte." Er stockte. „Natürlich. Die hatte ich immer genau dann wenn ich dich getroffen hatte."
„Sehr gut", sie legte den Kopf leicht schief und musterte ihn. „Hast du ne Ahnung wie schwer es mir gefallen ist, die ganze Zeit so scheiße freundlich zu dir zu sein? Ich hoffe du hast was draus gelernt."
Flo schnaubte: „Erstens hat dich niemand dazu gezwungen. Und zweitens habe ich dir das schon fünfmal gesagt. Ich. Kann. Ihn. Nicht. Überreden. Und ich habe es versucht. Wirklich."
„Dann hast du dich eben nicht genug angestrengt", in ihrer Stimme lag nichts mehr von der Wärme, die sonst immer dort gewesen war. „Du warst ja nicht einmal oben." Flo schloss die Augen, wie um sich zu beruhigen. „Ich darf nicht. Das ist Gesetz. Außerdem kann ich auch so mit ihm reden. Es ist egal was ich sage, er wird ihn nicht freilassen." Sie stand auf, lief zum Fenster, die Hände zu Fäusten geballt. Seine Stimme wurde lauter: „Vergiss es. Er wird es nicht tun. Und kannst du es ihm überhaupt übel nehmen?"
Jetzt drehte sie sich um. Flo hatte sie noch nie so wütend gesehen, weder vor dem Unfall, noch danach: „Wenn er deine Mutter so sehr geliebt hat, würde er verstehen wie es mir geht." Ihre Augen funkelten. „Denkst du ich hab nicht mitgekriegt, dass deine kleine Freundin beim Training war? Wie sehr würde es dir denn gefallen würde ihr etwas passieren?"
Aline. Er biss die Zähne zusammen, wenn er daran dachte, wie sie vor ihm gestanden hatte. Sie hatte sich nicht einmal getraut richtig mit ihm zu reden oder ihn auch nur anzuschauen. Und er hatte auf Lindas (oder sollte er sie bei ihrem richtigen Namen nennen?) Rat gehört und sie nicht beachtet. Obwohl er gewollt hatte. Als er hörte, wie sie Aline drohte, ballte er die Hände zu Fäusten und stand ebenfalls auf. „Du hältst Aline da raus. Sie hat nichts mit der Sache zu tun."
„Achso", sie lachte, aber es lag keine Freude darin. „Ihr dürft also meinen...", sie stockte kurz. „Freund einfach so gefangen halten, aber ich darf an deine Freundin nicht ran oder was?" Flo machte einen Schritt auf sie zu. Er wusste, dass er nicht so wütend werden sollte, dass er einen klaren Kopf behalten sollte, gerade in Anbetracht der Person mit der er gerade sprach, aber wenn sie so über Aline sprach brannten bei ihm sämtliche Sicherungen durch. „Du weißt genau, warum das so ist."
Sie schnaubte. In ihren Augen schienen Tränen zu glitzern. Trotzdem war ihre Stimme fest, als sie antwortete: „Ich hab euch nie irgendetwas getan."
Flo seufzte, zwang sich dazu sich von ihr abzuwenden und sich wieder auf die Liege zu setzen, bevor er sie anschaute und erwiderte: „Ich genauso wenig. Wir müssen eben beide die Fehler unserer Eltern ausbaden. Aber du kannst meinem Vater nicht vorwerfen euch nicht zu vertrauen."
Sie verschränkte die Arme: „Du weißt, dass ich alles tun würde, um ihn darauszuholen."
„Ich weiß", seine Stimme wurde ruhiger. „Sonst hätte ich gar nicht erst versucht ihn zu überreden. Aber solange er sich querstellt kann ich nichts tun. Das weißt du genauso gut wie ich."
Das schien sie nicht zu beruhigen, eher im Gegenteil: „Dann hast du offensichtlich noch nicht genug getan." Wieder drehte sie sich zum Fenster um und stützte sich mit den Händen auf der Fensterbank ab. Flo sah, wie ihre Knöchel weiß wurden. „Du musst nach oben." Flo schnaubte: „Wie oft soll ich dir noch sage, dass das nicht geht?"
Für einen Moment herrschte Stille zwischen ihnen. Gefährlich, aber Flo wagte nicht, noch etwas zu sagen. Er spürte die Spannung wie ein Knistern zwischen ihnen. Eine Bombe, bei der gerade der letzte Zentimeter Zündschnur brannte. Und Flo würde daneben stehen, wenn sie explodierte.
Schließlich brach sie die Stille: „Ist das dein letztes Wort?" Er schwieg, bevor er antwortete: „Ja." Sie drehte sich um. Ihr Blick war kalt. Sie kam näher, bis sie so nah aneinander standen, dass Flo sich nur ein Stück herunterbeugen müsste, damit sich ihre Lippen berührten. Er spürte ihren Atem auf seiner Haut. Es war kaum zu hören, was sie sagte, doch Flo verstand jedes Wort: „Das wirst du bereuen. Sag deinem Vater schöne Grüße von Alentiya."
Flo spannte sich an, doch sie unternahm nichts. Stattdessen lächelte sie, etwas das Flo noch viel mehr Angst machte. Sie sah so aus, als hätte sie gerade nicht alles verloren, sondern gewonnen. Er blieb stehen, wo er war, selbst als sie schon an ihm vorbei gegangen war und sich vor der Tür noch einmal umdrehte: „Ach, und noch etwas. Von diesem Gespräch erfährt keiner hier ein Wort. Sonst brennt es bald nicht nur in der Hölle." Damit drehte sie sich um und knallte die Tür hinter sich zu. Flo starrte noch einen Moment auf die Tür, bevor er wieder zu der Liege ging und sich darauf setzte.
Nachdenklich richtete sich sein Blick aus dem Fenster, auf den wolkenlosen Himmel und er schluckte. Die letzten Monate waren alles andere als gut, toll oder schön gewesen. Aber für das was ihm bevorstand, auch wenn er noch nicht wusste, was seine Erzfeindin vorhatte, hätte er sie zehnmal getauscht.- 02.02.23
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Angelfoot
FanfictionEin junger Prinz, dazu bestimmt seine Jahre auf der Erde zu verbringen. Ein Unfall, der ihm das Gedächtnis raubt. Ein Team für das er alles gibt. Ein außergewöhnlicher Weg zu sich selbst zurück. Ein Leben, das ihn für immer verändern wird. ...