37. Kapitel

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    Flo beachtete weder die Kopfschmerzen, die seine ganze Wirbelsäule herunterzuziehen schienen, als auch er aufsprang, noch Linda, die immer noch in der Tür stand. Sein einziger Gedanke galt seinem kleinen Bruder, der gerade gott-weiß-was durchmachen musste - wegen ihm. Sein kleiner, immer gut gelaunter Bruder, mit seiner Begeisterung für Motorräder, über die er Stunden reden konnte, der ihm immer seine Schokolade klaute (obwohl er das Gegenteil behauptete) und der nie etwas getan hatte - außer sein Bruder zu sein.
    Dank der langen Zeit, die er im Krankenhaus verbracht hatte, kannte er sich blind aus, dachte keine zweimal nach, während er so schnell er konnte um Ecken schlitterte und Treppen nach unten rannte und dabei versuchte die Übelkeit zu ignorieren, die in ihm hochstieg. Als er in der Notaufnahme ankam, sah er schon von weitem seine Familie im Gang. Sie standen um einen jungen Pfleger herum, derselbe der Flo in Empfang genommen hatte, wie er halb registrierte, und der gerade offensichtlich beschwichtigend auf sie einredete. Kurz bevor er bei ihnen ankam, verschwand er durch eine Tür. Flo verlangsamte das Tempo etwas, sein Atem ging schnell, ob vor Anstrengung oder Angst wusste er nicht. Seine Mutter ließ sich auf einen Stuhl im Gang sinken und vergrub das Gesicht in den Händen.
Flos flehender Blick flog von ihr zu Dani, der sich mit der Hand immer wieder verzweifelt durch die Haare fuhr, die dadurch schon ganz verstrubbelt waren, zu seinem Vater, dem einzigen, der, totenbleich, seinen Blick erwiderte. „Ist er...", Flo brachte die Frage nicht über die Lippen. Sein Vater schloss kurz die Augen: „Er... hatte einen Unfall. Sie mussten ihn dort noch...", er schluckte schwer. „reanimieren. Doktor Harrison operiert ihn gerade. Wir müssen abwarten."
Flos Knie begannen zu zittern. Er nickte seinem Vater zu, lief zu der nächstgelegenen Wand und ließ sich daran hinabsinken. Ihm war kotzübel, in seinem Kopf pochte es und alles um ihn herum schien sich zu drehen. Alles was er tun konnte, war auf die Tür zu starren, in der der Pfleger eben verschwunden war und hinter der sein kleiner Bruder...
    Dani kam zu ihm, ließ sich neben ihn sinken und fuhr sich noch einmal mit den Händen durch die Haare. Irgendwo tickte eine Uhr. Flo schloss die Augen. Seine Gedanken rasten. Er hatte keine Ahnung mehr, was er noch tun sollte. Er hatte keine Kontrolle mehr über irgendetwas. Sein ganzes Leben wurde schon seit Monaten nicht mehr von ihm bestimmt. Und jetzt Niki... Es schien alles immer schlimmer zu werden, ohne dass er irgendetwas daran ändern konnte.
    Er hatte keine Ideen mehr, keine Lösungen oder auch nur Möglichkeiten etwas verbessern zu können. Immer und immer wieder spielte er jede einzelne Situation durch, die dazu geführt hatte, dass er jetzt hier saß, aber ihm fiel nichts auf, dass irgendetwas verändert hätte.
    Er wusste nicht, wie lange sie da saßen, wie lange keiner ein Wort sagte, als die Tür endlich - endlich - aufgeschoben wurde. Seine Eltern sprangen auf, auch Dani rappelte sich hoch und Flo tat es ihm gleich. Sobald er stand, musste er sich mit der Hand an der Wand abstützen. Für einen Moment drehte sich alles um ihn herum und er schloss kurz die Augen bis sich seine Sinne wieder beruhigt hatten. Als er sie wieder öffnete, stand seine Familie schon um den Arzt herum, der jedoch ihn anblickte und darauf wartete, dass er sich zu ihnen stellte. Flo beeilte sich zu ihnen zu kommen. Bei dem klicken seiner Stollen auf dem Boden wurde ihm bewusst, dass er noch immer seine Fußballklamotten trug.
Aus der Nähe sah Doktor Harrison noch müder aus. „Ich...", begann der Arzt zu sprechen, brach dann jedoch ab. Sein Blick war nur auf seine Schuhe gerichtet. Als er ihn schließlich hob, wusste Flo schon was er sagen würde, bevor er es aussprach: „Es tut mir leid."
    Die Welt schien einen Moment still zu stehen, bevor sie zersprang. Flo hörte den Schrei seiner Mutter wie aus weiter Ferne, sah Dani zum nächsten Stuhl taumeln. Er bekam keine Luft mehr, sein Blickfeld verengte sich, bis er nur noch den Arzt vor sich sah, der sie still beobachtete und dem selber Tränen in den Augen standen. Er hatte Niki gekannt. Flo wusste nicht, warum ihm das gerade jetzt auffiel, aber er musste Niki gut gekannt haben, musste ihn kennengelernt haben, in den 3 Monaten in denen Flo im Koma gelegen hatte. Die Welt vor seinen Augen begann zu schwanken, er blinzelte ein paar Mal hektisch, um sie wieder ins Gleichgewicht zu bringen, doch anstatt besser zu werden, fing alles an zu verschwimmen, dann klarer zu werden und erneut zu verwischen. Er atmete schnell ein und aus, hatte aber trotzdem das Gefühl keine Luft zu bekommen. Er streckte seinen Arm nach der Wand aus, ohne zu bemerken, dass sie viel zu weit weg war, als dass er sie erreichen konnte.
    Diese Bewegung erregte Doktor Harrisons Aufmerksamkeit: „Flo?" Mit ein paar schnellen Schritten war er bei ihm und musterte ihn genauer. „Heyy, atmen Junge. Mit mir zusammen, einatmen, ausatmen. Komm mal mit, setz dich erstmal." Flo ließ sich von ihm zu einem Stuhl führen, wie in Trance, immer noch flackerte alles vor seinen Augen. Doktor Harrison hockte sich vor ihn, mit besorgtem Blick.
    „Schau mich an." Flo zwang sich seinen Blick zu erwidern.
    „Sehr gut. Und jetzt atmen ok? Zusammen." Flo zwang sich seinen Worten zu gehorchen, seinem Blick Stand zu halten. Langsam flachte seine Panik ab und hinterließ nur die Trauer, die an ihm zerrte. Immer noch starrte er Doktor Harrison an. „Das ist alles meine Schuld", seine Stimme war heiser, als hätte er wochenlang nicht gesprochen. Es kam ihm wie Ewigkeiten vor, dass er auf dem Fußballfeld gestanden hatte.
    Der Arzt schüttelte nur den Kopf und erwiderte, mit genauso leiser Stimme wie Flo: „Nichts davon ist deine Schuld Flo." „Du verstehst das nicht. Ich...", ein Blick ließ ihn verstummen. Denn darin lag nicht nur Traurigkeit, sondern auch eine Warnung. Sie waren nicht alleine. Sie konnten nicht frei sprechen.
    Das erinnerte Flo an seine Familie. Er schaute sich um. Dani saß auf einem Stuhl, ihm rannen stumme Tränen übers Gesicht. Sein Vater hatte die Arme um seine Mutter geschlungen, die schluchzte. Er begegnete kurz Flos Blick, schaute aber gleich wieder weg. Doktor Harrison beobachtete ihn immer noch, als er sah, dass er sich einigermaßen beruhigt hatte, räusperte er sich kurz und stand auf: „Ich... Ich hole euch. Wenn ihr zu ihm könnt." Diese Worte schienen Flo zu elektrisieren. Er fasste den Arzt um den Arm, sodass dieser sich umdrehte und ihn anschaute. „Ich muss zu ihm", Flo war etwas noch nie so klar gewesen. Er sprach leise, aber Danis Blick zuckte trotzdem kurz zu ihm. Flo hoffte, er würde sich nicht so viele Gedanken darum machen.
Doktor Harrison starrte ihn an. Als sich seine Augen weiteten, wusste Flo, dass er begriffen hatte, was er vorhatte. Und dass er es nicht gut hieß. „Flo..." „Bitte", fast war nicht zu hören, was er sagte. Flo sah ihm an, wie er einen Kampf mit sich führte. Dann seufzte er leise. „Komm mit." Flo folgte ihm, mit gesenkten Blick. Wie er das seiner Familie erklären würde, konnte er sich später ausdenken. Die Schiebetür vor ihnen öffnete sich automatisch und ließ sie hindurch. Doktor Harrison blieb dahinter stehen, wartete, bis sie sich wieder geschlossen hatte und wandte sich dann an Flo: „Bist du bescheuert? Du weißt genau, dass du das nicht darfst. Da ist es egal, dass du der Prinz bist. Wenn das rauskommt, dann..."
„Ich weiß genau, was dann passiert", unterbrach ihn Flo, mit ruhiger Stimme. Eine Entschlossenheit hatte die Trauer verdrängt, die sich eben noch in seinem Herzen breit gemacht hatte. „Und ich weiß genau was ich tue. Ich...", er stockte. Er konnte es ihm nicht sagen. Er wusste, dann würden noch viel schlimmere Dinge passieren. Auch Doktor Harrison schien das zu kapieren. „Irgendwas geht hier ab, dass ich nicht verstehe. Aber Flo, wenn du das wirklich tust..." „Ich bin mir sicher", unterbrach Flo ihn erneut. „Wirklich, ich muss das tun." Er atmete tief ein, konnte aber dennoch nicht verhindern, dass seine Stimme zitterte: „Ich bin Schuld. An dem allen hier. Ich muss versuchen das alles gut zu machen. Irgendwie." Er stellte sich dem ernsten Blick des Arztes. Für einen Moment herrschte nur Stille zwischen ihnen, doch dann traf er offensichtlich eine Entscheidung, nickte und ging vor, um Flo zu seinem Bruder zu bringen.
    Flo hatte keine Ahnung gehabt, dass die Op-Räume sich so weit erstreckten. Doktor Harrison führte ihn durch ein paar Türen hindurch, um ein paar Ecken herum und blieb schließlich vor einer Tür entgegen, die warnte, dass Zutritt nur Befugten gestattet war. „Warte kurz hier", sagte er zu Flo, schob die Tür ein wenig auf und schloss sie schon wieder hinter sich, ohne dass er einen Blick hinein werfen konnte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie sich erneut öffnete, diesmal weiter, und der Arzt ihn hereinwinkte. Er musste ihm nicht zeigen, wo er hin musste. Flo schaute sich um und wusste ganz genau, warum seine Familie hatte warten sollen. Überall im Raum schien Blut verteilt zu sein, die Instrumente, die benutzt worden waren, lagen noch auf dem Tischen herum. Nur die Monitore waren ausgeschaltet worden, einzig eine große Lampe über dem Tisch brannte, die den Raum in kaltes, weißes Licht tauchte.
Doktor Harrison hinter ihm war geblieben wo er war: „Ich warte vor der Tür." Flo drehte sich nicht um, nur das auf und zuschieben der Tür sagte ihm, dass er nun alleine war.
Langsam ging er zu dem Tisch hinüber, auf dem sein Bruder lag. Eine Decke war über Niki ausgebreitet worden, man sah nur noch sein Gesicht, doch schon bei diesem Anblick, gemischt mit dem Blut auf dem Boden, wurde Flo übel. Trotzdem zögerte er keinen Moment, sich vor ihn auf den Boden zu knien: „Hey Niki." Seine Stimme war kaum zu hören. Doch es war niemand da, der ihn verstehen musste. Er schluckte: „Ich... es tut mir alles so leid. Das ist alles meine Schuld. Hätte ich nicht... Wäre ich...", er rang nach Worten, brach dann aber ab. Es war sinnlos jetzt nach Wörtern zu suchen, die er später sowieso noch einmal aussprechen musste. Für einen Moment blieb er still, dann legte er die Stirn auf den Rand des Tisches, die kühle Metallplatte nur von der dünnen Decke abgeschirmt, und sprach leise die uralten Worte aus, die die Welt entweder retten - oder sie vollends zerstören würde.

Es waren nur 5 Minuten vergangen, als er schließlich wieder aus dem Raum austrat. Doktor Harrison wartete dort wie versprochen auf ihm. Er sagte weder etwas zu dem, was Flo getan hatte (an dem er jetzt sowieso nichts mehr ändern konnte), noch zu Flos roten Augen. Schweigend gingen sie den Weg nebeneinander zurück. Kurz, bevor sie wieder auf den Gang traten, in dem Flos Familie wartete, blieb er stehen.
    Doktor Harrison drehte sich um, schaute ihn mit fragenden Blick an. Flo zögerte: „Danke. Für alles. Nicht nur gerade eben." Der Arzt lächelte leicht und nickte ihm zu. Er drehte sich um und wollte schon die Tür aufschieben, als er bemerkte, dass Flo sich immer noch nicht vom Fleck gerührt hatte. „Was meinst du... Wie lange habe ich Zeit?" fragte Flo, seine Stimme kaum hörbar. Doktor Harrison warf einen Blick auf seine Uhr, dann aber wieder zu ihm. „Vielleicht ein, zwei Stunden." Seine Augen waren voller Mitgefühl. „Du musst nicht hierbleiben, wenn du nicht willst." Flo schüttelte den Kopf: „Ich will bei meiner Familie bleiben. Wenigstens noch kurz." Die Trauer, die er eben verdrängt hatte, machte sich wieder in ihm breit. Trotzdessen, was er getan hatte, er konnte seinen Bruder nicht wieder lebendig machen.
Und das tat verdammt weh.

- 03.03.23

AngelfootWo Geschichten leben. Entdecke jetzt