Angelfoot

13. Kapitel

Flo und Kai aßen zusammen fertig, dann liefen sie nach oben, weil sie sich umziehen wollten und Kai noch den Ball holen musste.
„Wir treffen uns in 10 Minuten wieder hier an der Treppe", sagte Kai und verschwand in Richtung seines Zimmers, das am anderen Ende des Flurs lag, wie Flo festgestellt hatte. Auch er öffnete die Tür seines Zimmers, holte sich frische Klamotten aus dem Schrank und zog sich so schnell wie möglich um. Heute Nachmittag gab es noch einmal anderthalb Stunden Training mit Alex, da lohnte es sich nicht zu duschen.
Er war früher als Kai wieder draußen, lehnte sich an die Wand und antwortete auf ein paar Whatsapps von Niki, Dani und seinen Eltern, sowie seinen Teamkameraden.
In diesem Moment schloss sich die Tür von Kais Zimmer. Als er bei ihm ankam, machten sich beide auf den Weg nach unten, wobei Kai eher humpelte als lief, dadurch, dass er wieder seinen Schuh anhatte. Flo achtete darauf, ihn das Tempo bestimmen zu lassen, er hatte noch gut in Erinnerung, wie schwer ihm Treppen laufen am Anfang gefallen war. Er übernahm auch den Ball von Kai, damit dieser sich am Geländer festhalten konnte.
Als sie unten in der Eingangshalle angekommen waren, schaute Flo sich um: „Wo gehen wir denn jetzt hin?"
Kai deutete durch die verglaste Hintertür nach draußen.
„Da, ein paar Meter den Weg lang ist 'ne Wiese. Da müsste es eigentlich gehen." „Ok", sagte Flo. „Du darfst aber schon was machen oder?"
Kai warf ihm einen Blick zu, dann zuckte er mit den Schultern: „Ein paar Kopfbälle werden schon gehen." Flo lachte: „Na gut."
Die Steine knirschten unter ihren Füßen, als sie losliefen. Der Weg war aus feinem Kies, während der Rand von größeren Marmorsteinen begrenzt war. Flo runzelte die Stirn. Woher kannte er das? Der Weg auf dem er gekommen war, war asphaltiert gewesen und er war sich ziemlich sicher, dass er hier noch nicht lang gelaufen war. Vielleicht war er ja irgendwann im Krankenhaus mal auf so einem Weg entlanggelaufen. Das Gelände dort war ziemlich weitläufig und er hatte an seinen Vormittagen ziemlich viel erkundet. Obwohl er sich ziemlich sicher war, sich nicht daran erinnern zu können.
"Flo?", riss ihn Kai aus seinen Gedanken.
"Hä? Was?", er schüttelte den Kopf, um wieder klarer zu werden. "Tut mir leid, ich war grad im Gedanken. Was hast du gesagt?"
Kai grinste: "Wir sind da."
Er war stehen geblieben und deutete nach links, auf eine gerade gemähte Wiese, die nach etwa 200 Metern endete und in ein paar Weiden überging, hinter denen er einen Bach vermutete.
"Cool", Flo schaute sich um.
"Also, womit fangen wir an? Ich hab bis jetzt noch nie einen Ball in den Händen gehabt. Also seit ich... du weißt schon."
"In die Hände nehmen wäre auch eher ungünstig", sagte Kai und lächelte: "Du schaffst das schon." Damit warf er ihm den Ball zu: "Hier. Probier einfach mal." Wie automatisch fing Flo den Ball geschickt mit der Wade auf und starrte überrascht auf den Ball, der jetzt ganz still vor ihm auf dem Rasen lag.
"Na siehst du. Geht doch", Kai grinste, lehnte sich an eine Bank, die am Rand des Weges stand und sagte: "Dribbel mal ein bisschen. Mach das ganze basic-Zeug. Du weißt was ich meine oder?"
Flo nickte. Er hatte viel zu viele Fußballvideos in letzter Zeit gesehen, um nicht zu wissen was er meinte.
Damit startete er, während Kai ihm immer wieder Ratschläge zurief, wie er was machen konnte und was er verbessern konnte. Nachdem er ein paar Minuten gedribbelt, versucht hatte den Ball hoch zu halten - mit miserablen Ergebnissen - und ein paar 'Ecken' auf Kai geschossen hatte, die er größtenteils weg geköpft hatte (und die Bälle Flo jedesmal wiederholen musste), stoppte er und drehte sich zu Kai um: "Sag mal ist das überhaupt erlaubt, dass du mich unterrichtest oder ist das illegal, weil du einen anderen Verein unterstützt?"
Kai begann zu lachen: "Also wenn dein Verein dir das nicht so sagen würde, wie ich es grade tue, musst du wechseln, bei deinem Talent." "Haha", machte Flo und spielte ihm den Pass zu. „Man, ich wünschte ich hätte wen der mit mir spielen kann. Alleine macht keinen Spaß."
„Tja", antwortete Kai, lupfte den Ball mit seinem gesunden Fuß geschickt in die Luft und fing ihn auf. „Da musst du wohl jemanden einladen. Ich kann in höchstens zwei, drei Wochen wieder anfangen richtig zu spielen." Flo seufzte: „Wie lange bist du überhaupt hier?"
Kai zuckte mit den Schultern, während sie sich auf den Weg zurück machten. „Ich glaube 6 Wochen? Müsste ich nochmal nachschauen. Du?"
Flo schnaubte frustriert. „Mindestens noch 8 Wochen. Aber ich muss regelmäßig zurück nach Gladbach, zu den Nachuntersuchungen. Und dann hab ich bald noch für zwei Tage einen Termin bei einer Klinik in München, damit die die Befundnisse von Doktor Harrison überprüfen können. Ich glaub zwar nicht das was anderes dabei raus kommt, aber versuchen kann man es ja mal."
„Meinst du wegen...", Kai beendete den Satz nicht und zeigte stattdessen auf seinen Kopf. Flo nickte: „Ja. Wenn sie Doktor Harrison so bestätigen, wie er es gesagt hat, bekomm ich mein Gedächtnis wohl nie zurück."
Danach herrschte Schweigen.
Erst als sie wieder im Gebäude angekommen waren, brach Flo das Schweigen: „Ich geh dann mal hoch in mein Zimmer. Bis nachher beim Training." Kai warf ihm einen komischen Blick zu: „Ja, bis nachher."
Flo trabte die Treppen nach oben, bis Kai nicht mehr zu sehen war, dann stoppte er kurz und drehte sich um, als könnte er ihn noch sehen. Was war denn dieser Blick auf einmal gewesen? Hatte er irgendetwas falsches gesagt, ohne es bemerkt zu haben? Er überlegte einen Moment, dann schüttelte er den Kopf und lief weiter. Wenn Kai ein Problem hatte, sollte er ihn selber ansprechen.

Kai starrte Flo für einen Moment hinterher, während dieser nach oben in sein Zimmer lief. Er mochte ihn sehr gerne. Bis jetzt hatten sie schon ein paar mal gegeneinander gespielt, aber Kai hatte ihn nie wirklich beachtet. Er spielte eben beim Gegner, aber er hatte nie direkt gegen ihn im eins gegen eins gespielt, deshalb hatte er sich eher mit anderen Teamkameraden von Flo als mit ihm selber beschäftigt.
Natürlich hatte ihn die Nachricht geschockt, als er es gehört hatte - die halbe Fußballwelt war geschockt gewesen -, aber selbst da hatte er sich nicht näher mit ihm beschäftigt. Er hatte nur bemerkt, dass die Gladbacher Mannschaft viel besser spielte als sonst.
Tatsächlich wurde auch Lars Stindl in einem Interview darauf angesprochen, das Kai gesehen hatte und an dessen Wortlaut er sich immer noch genauestens erinnerte: „Ich glaube wir spielen irgendwie alle ein bisschen für Flo. Das gibt uns dieses winzige bisschen Kraft und Ausdauer, dass wir brauchen, um unserem Glück auf die Sprünge zu helfen. Wir wollen ihn stolz machen, wenn er wieder aufwacht."
Gerade eben, bei ihrem Gespräch, als Flo seinen Gedächtnisverlust erwähnt hatte, war ihm erst klar geworden, was das wirklich bedeutete. Er konnte sich gar nicht vorstellen, keine Erinnerung an seine Familie, Freunde oder sein erstes Spiel zu haben, geschweige denn, wie schwer es war, wieder zurückzukommen und dabei immer positiv zu bleiben. Er war gerade mal einen Tag hier und kannte Flo genauso lange persönlich, doch trotzdem mochte er ihn schon ziemlich gerne.

Sie trafen sich erst nachmittags beim Training, anderthalb Stunden später, wieder. Flo lächelte ihm verhalten zu - man, war der Typ pünktlich, er war schon wieder früher als Kai da gewesen. Auch er ging zu ihm und Alex hinüber, die nur noch auf ihn warteten. Und dann starteten sie die nächste Session.
Kai spürte von Anfang an, dass irgendetwas nicht ganz in Ordnung war.
Sie sollten zuerst auf dem Laufband laufen, Flo im lockeren Lauftempo, Kai im schnellen Schritt. Seine Sehne hatte schon lange nicht mehr weh getan, aber heute spürte er von Anfang an ein unangenehmes Ziehen. Zuerst nahm er an, dass das von der, jetzt wieder, regelmäßigen Belastung kam oder von dem Ausflug mit Flo und versuchte einfach weiter durchzuziehen, doch der Schmerz schien nur schlimmer zu werden und schließlich musste er abbrechen.
„Was ist los?", fragte Alex mit gerunzelter Stirn, als er vom Laufband abstieg und zu einer Bank am Rand ging, wobei er versuchte möglichst wenig zu humpeln. Flo schaute ihm hinterher, lief aber weiter und Kai wusste, dass er ihm nicht auf die Nerven gehen wollte.
„Ich weiß nicht", antwortete Kai auf Alex, der sich nun mit besorgter Miene vor ihn gestellt hatte und ihn musterte. „Auf einmal hat es wieder weh getan."
„Zeig mal her", sagte Alex, kniete sich hin und wartete, bis Kai sich seinen Schuh und den Socken ausgezogen hatte. Seine Achillessehne war geschwollen, das sah man sofort. „Ich glaub da sollte mal medizinisches Personal ran", Alex hatte besorgt die Stirn gerunzelt, während er Kais Fuß unter die Lupe genommen hatte. „Ich ruf mal grad jemanden an." Damit stand er auf und verschwand in Richtung seines Büros.
Sie sollten sowieso jede Woche durchgecheckt werden, und Kai hatte auch schon die Anfangsuntersuchung, die half seinen Trainingsplan zu erstellen, hinter sich, aber da war noch alles in Ordnung gewesen.
Flo, der sah, dass Alex verschwand, stellte sein Laufband ab und kam zu ihm herüber. Er setzte sich zu ihm: „Was ist los?"
„Keine Ahnung", antwortete Kai. Seine Laune war innerhalb von Minuten komplett im Keller. „Alex meint er braucht wen von der medizinischen Abteilung hier."
„Scheiße", sagte Flo.
„Du sagst es", erwiderte Kai und lehnte sich zurück, die Arme über dem Kopf verschränkt.
Es dauerte ein paar Minuten, bis Alex zurück kam. „Du sollst sofort rüberkommen", rief er ihm schon von weitem entgegen. „Und ich soll dir sagen, du sollst lieber erstmal gar nicht belasten."
Flo sprang sofort auf und holte ihm seine Krücken, die er an der Tür abgestellt hatte. Alex blieb derweil bei ihm. „Sie sagen sie glauben nicht, dass es etwas schlimmeres ist, aber sie wollen es sich lieber erstmal angucken. Wird schon wieder", er zwinkerte ihm aufmunternd zu und drehte sich dann zu Flo um, der ihm die Krücken reichte.
„Danke", sagte Kai, drückte sich hoch und begann dann los zu humpeln. „Kein Ding", antwortete Flo. „Viel Glück." „Nochmal danke", sagte Kai und lächelte. Er hoffte wirklich, dass es nichts schlimmeres war. Rückschläge gehörten zum Fußball, aber gerade jetzt, wo er gedacht hatte es würde wieder besser werden? Bitte nicht.
Die Abteilung lag am anderen Ende der Klinik, deshalb war es ein weiter Weg und er dauerte natürlich länger. Kai kam sich vor wie eine 100 Jahre alte Schildkröte. Er bereute schon, nicht nach einem Rollstuhl gefragt zu haben, als er endlich ankam. Doch dort wurde er schon erwartet, von dem Arzt, der ihn auch begrüßt hatte und die erste Untersuchung durchgeführt hatte.
„Was machst du denn für Sachen", begrüßte er ihn.
Kai schnitt eine Grimasse: „Glauben sie mir, echt keine Ahnung."

- 12.07.21