34. Kapitel

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Aline schaute sich jedes Spiel von Flo an. Jedes einzelne. So saß sie auch heute vor dem Fernseher und schaute gebannt zu, wie Flos Team dabei war zu verlieren. Sie verstand nicht viel von Fußball (mittlerweile immerhin ein bisschen mehr als davor), aber seit sie sich wieder mit Elena vertragen hatten und sie die Spiele zusammen schauten, hatte sie eine Expertin an ihrer Seite. Flos Team spielte in der zweiten Halbzeit deutlich besser als in der ersten, schaffte es sogar das 1:2 zu erzielen und damit doch noch ein bisschen Spannung in die Partie zu bringen.
    „Oh oh, oh oh, oh oh", murmelte Elena neben ihr. Sie musste alles auf dem Platz kommentieren, im Gegensatz zu Aline, die meistens schweigend da saß. Gerade war Kai Havertz an Flo vorbei gesprintet, der es gerade noch schaffte ihn zu Fall zu bringen und so vermutlich das nächste Tor verhinderte. „Wieso bekommt er dafür jetzt eine gelbe Karte?", fragte Aline ihre Freundin, deren Blick wie gebannt am Fernseher klebte. „Taktisches Foul", antwortete Elena abwesend. „Okaaay", Aline nickte, auch wenn sie keine Ahnung hatte, was das war und wieso man dafür eine gelbe Karte bekam. Nachfragen konnte sie allerdings trotzdem nicht, denn der Freistoß wurde vom gefoulten schnell ausgeführt und wäre beinahe im Tor gelandet, hätte der Gladbacher Keeper ihn nicht gerade noch übers Tor gelenkt. Elena blies die Backen auf: „Puuuuh. Der war knapp."
    Aline antwortete nicht. Ihr Blick hing am Bildschirm, auf dem gerade Flo zu sehen war, wie er neben einem Leverkusener (Aline glaubte es war der, den er eben gefoult hatte) stand und die beiden sich unterhielten. Sie wirkten vertraut miteinander, wie sie ein paar Worten wechselten, bevor endlich die Ecke ausgeführt wurde. Alles ging so schnell, dass Aline es gar nicht mitbekommen hätte, hätte sie nicht wie immer nur Flo beobachtet. Es sah wie ein ganz normaler Zweikampf zwischen Flo und dem anderen Spieler aus, doch anstatt wieder sicher auf seinen Füßen zu landen, brach Flo zusammen und blieb auf dem Boden liegen. Der Ball landete im Netz, die Leverkusener wollten schon feiern, als plötzlich ein scharfer Pfiff des Schiris ertönte und auch die Spieler, die um Flo herum standen, hektisch in Richtung Bank zu winken begannen.
    Der Kommentator schien ähnlich sprachlos wie Aline zu sein. Für einen Moment hörte man nur die Fans im Stadion; und auch die waren viel leiser geworden. Die Kamera zeigte eine nähere Aufnahme der Spielertraube, die sich mittlerweile um Flo gebildet hatte, dann die Sanitäter, die aufs Feld gerannt kamen. Der Kapitän der Gladbacher und der Blonde, gegen den Flo das erste mal eingewechselt worden war (Aline kannte die Namen noch nicht) knieten auf der Erde neben ihm. Was sie taten wurde von den anderen Spielern verdeckt, die eine Art Sichtschutz gebildet hatten. „Oh mein Gott", flüsterte Elena neben ihr. Aline brachte keinen Ton heraus. Ihr Herz hämmerte. Was passierte da gerade mit ihrem Freund? Warum schon wieder er? Sie spürte wie ihr Tränen in die Augen stiegen, tat jedoch nichts dagegen, als sie begannen ihr die Wangen hinunterzurollen.
In diesem Moment lichtete sich die Traube der Spieler ein wenig und man konnte Flo sehen, wie er auf dem Rasen saß. Einer der Sanitäter leuchtete ihm mit einer Taschenlampe in die Augen, dann redete er einen Moment mit Flo und schien ihm ein paar Fragen zu stellen. Flo war blass, nickte nur oder schüttelte den Kopf, aber sprach nicht. In seinen Augen stand der blanke Horror. Jemand anderes hätte ihn wohl nur für verwirrt gehalten, Aline wusste es besser.
Neben ihm standen immer noch seine zwei Mannschaftskollegen, auf einem Trikot konnte Aline ‚Kramer' lesen, und auch der Leverkusener, der ihn gefoult hatte, war noch da und sprach jetzt mit ihm. Zum ersten Mal hob Flo den Kopf und rang sich ein Lächeln und ein paar Worte ab. Dann rappelte er sich hoch und ging gemeinsam mit den Sanitätern vom Platz. Er schwankte leicht, als ob ihm immer noch schwindlig wäre, aber er hielt den Kopf gesenkt. Aline beugte sich vor, näher an den Fernseher heran. Irgendetwas stimmte bei Flo ganz und gar nicht. Und dabei dachte sie nicht an den Knockout.

    Es schienen nur Sekunden vergangen zu sein, als Flo die Augen wieder anfühlte. Er spürte den Rasen unter sich, den Wind, der ihm sanft durch das Gesicht und die Haare strich. Um ihn herum waren hektische Stimmen zu hören, aber ansonsten war es außergewöhnlich ruhig, für ein mit 54.000 Menschen besetztes Stadion. Also war wirklich nicht viel Zeit vergangen. Flo fühlte sich, als wäre er Stunden bewusstlos gewesen. Alles war wieder da. Alle seine Erinnerungen, jedes kleinste Fitzelchen. Er brauchte unbedingt Zeit, um seine Gedanken zu ordnen, aber er wusste, dass er verdammt viele Fehler gemacht hatte. Beziehungsweise eigentlich nur einen einzigen. Das Tattoo an seinem Handgelenk schien zu glühen. Wie hatte er nur so dumm sein können? Aber er nie gedacht, nicht einmal von ihr, dass sie so weit gehen würde. Er hatte versucht ihr alles erklären, dass -
    „Flo? Hey, hey Flo, hörst du mich?", Chris Stimme zerrte ihn zurück in die Wirklichkeit. Flo stöhnte und rollte sich auf den Rücken. In seinem Kopf dröhnte es. Als er die Augen aufschlug, sah er nur Himmel über sich, an dem sich langsam die ersten Sterne zeigten. Um ihn herum standen seine Mitspieler (und auch die Gegner, wie er feststellte). Chris und Lars knieten neben ihm, Chris hatte sich besorgt über ihn gebeugt. In diesem Moment kamen die Ärzte auf sie zugerannt. Doktor Hertl nahm Chris Platz ein, der schnell Platz machte. „War er bewusstlos?", besorgt runzelte der Arzt die Stirn. Chris nickte: „Bis gerade eben." „Okay...", jetzt wandte sich der Arzt an Flo: „Tut dir was weh? Ist dir schwindlig? Hast du Kopfschmerzen?" „Dreimal ja", murmelte Flo. Mittlerweile kämpfte er dagegen an wieder in die Untiefen seiner Erinnerungen abzutauchen. Wie machten das andere bloß? Wie konnten sie normale Sachen tun und nicht ständig über ihr ganzes Leben nachdenken? „Okay", sagte Doktor Hertl nochmal. Er zog eine Taschenlampe aus der Tasche und leuchtete damit in Flos Augen. Danach nickte er zufrieden. „Alles klar. Ich würd dich gerne in ein Krankenhaus bringen lassen. Gerade bei deiner Vorgeschichte muss das unbedingt durchgecheckt werden." Stirnrunzelnd musterte er ihn einmal von oben bis unten: „Du erinnerst dich noch an alles?" Flo nickte nur. Er erinnerte sich an zu viel.
Die Gesichtszüge des Doktors entspannten sich: „Sehr gut. Meinst du, du kannst dich hinsetzen? Oder sollen wir lieber gleich eine Trage holen?" „Oh Gott, bloß nicht", antwortete Flo. Auch wenn er für einen Moment nur Sternchen sah, rappelte er sich so schnell es ging in eine sitzende Position. Er brauchte definitiv nicht noch mehr Sorgen. Wenn er nur an seine Familie dachte... an seine beiden Familien, korrigierte er sich schnell. Wobei seine jetzige definitiv näher an das herankam, an das man bei dem Wort Familie dachte, als seine richtige.
Anscheinend war ihm anzusehen, dass er nicht ganz anwesend war, denn Doktor Hertl zog ein weiteres Mal seine Taschenlampe aus der Tasche und leuchtete ihm in die Augen: „Ist wirklich alles gut?" Flo nickte nur. Er wollte nicht reden, er wollte einfach nur von dem Feld runter, sich hinlegen und in Ruhe nachdenken, wie er alles irgendwie wieder einrenken würde.  Außerdem war die Spielertraube, die ihn vor den Blicken der Zuschauer geschützt hatte, mittlerweile verschwunden, nur noch Chris, Lars und Kai waren da. Letzterer war blass und sah so ernst aus, wie Flo ihn noch nie gesehen hatte. Währenddessen stellte Doktor Hertl weitere Fragen, bei denen Flo nur halb zuhörte und die er deshalb auch nur mit einem Nicken oder einem Kopfschütteln beantwortete. Der Arzt schien das auf seine Begegnung mit Kais Ellenbogen zu schieben, deshalb beendete er das Gespräch bald:
„Gut. Meinst du, du kannst laufen? Geht das mit deinem Schwindel? Oder doch lieber die Trage?" Flo schüttelte den Kopf: „Der Schwindel geht schon fast wieder. Ich kann laufen." Bevor er jedoch aufstehen konnte, begann Kai zu sprechen: „Ich... Flo, es tut mir so leid. Ich- wenn ich irgendwas machen kann..." Flo hob den Kopf und schaute Kai an: „Alles gut, das war ein Unfall. Du konntest nichts dafür. Ich ruf dich nachher mal an ok?" Sein Kumpel nickte. Flo zwang sich zu einem Lächeln: „Mein Gott so wie du aussiehst könntest du an Halloween als Geist durchgehen ohne dich zu verkleiden. Alles gut wirklich, ist ja nichts passiert." Das rang auch Kai ein leichtes Lächeln ab, das Flo noch einmal erwiderte und dann aufstand, um mit den Ärzten den Platz zu verlassen. Stehen und laufen war tatsächlich schwieriger als gedacht, denn jetzt kam zu dem Schwindel auch noch Übelkeit dazu. Flo versuchte das Gefühl so gut es ging zu ignorieren und hoffte, dass man seinen stolpernden Gang nicht allzu sehr bemerkte. Als sie endlich den schützenden Gang zu den Kabinen erreichten, atmete er erleichtert aus.
    Die Ärzte brachten ihn bis nach draußen, wo schon ein Krankenwagen und Sanitäter auf ihn warteten. Obwohl er eben darauf bestanden hatte zu laufen, war er jetzt dich froh, den kurzen Weg hinter sich zu haben. Zu seiner Erleichterung löcherten ihn die Sanitäter nicht auch noch mit Fragen, sondern ließen ihn weitestgehend in Ruhe. Auf Anweisung von Paul, wie sich einer der Sanitäter vorstellte, legte er sich auf die Liege im Rettungswagen und hörte mit geschlossenen Augen hörte zu, wie Doktor Hertl aufklärte, was passiert war und was Flo sich seiner Meinung nach getan hatte: „... ich würde vorschlagen ihr bringt ihn in das Stadtkrankenhaus. Der Arzt, Doktor Harrison, hat ihn nach dem Unfall schon behandelt. Also dann Flo, alles gute und lass mal von dir hören."
Es dauerte einen Moment, bis die Sätze bei Flo ankamen. Als er sich endlich ihrer Bedeutung bewusst wurde, war die Tür schon geschlossen und Paul begann ebenfalls auf ihn einzureden, während er ein paar Sicherheitsgurte anlegte. Stadtkrankenhaus... Doktor Harrison... Flo öffnete die Augen. Nein. Alles, nur bloß nicht in dieses Krankenhaus. Er bemühte sich ruhig zu bleiben und seinen viel zu schnellen Atem zu verlangsamen, aber auf dem EKG-Gerät, an das er nun angeschlossen war, wurde trotzdem ein viel zu schneller Herzschlag angezeigt. Paul runzelte die Stirn: „Gaaanz ruhig junge. Das wird alles gut." Flo konnte nur nicken. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Krampfhaft versuchte er sich einen Grund zu überlegen, warum er nicht in dieses Krankenhaus konnte. Wahrscheinlich war es sowieso egal. Sie würden ihn überall finden. Trotzdem... er wollte nicht zurück an diesen Ort, wo alles angefangen hatte. Auch wenn es egoistisch war, ja, er wollte die Zeit hinauszögern, bis er sich eine Lösung aus dem Ärmel schütteln musste. Er wollte nicht wieder in die Augen blicken müssen.
Es ließ sich nicht verhindern. Und so schloss er die Augen, lauschte dem Piepen neben ihm, das langsam wieder regelmäßiger wurde und versuchte nicht in Panik zu verfallen bei dem Gedanken an das, was ihn erwartete.

- 28.12.22

AngelfootWo Geschichten leben. Entdecke jetzt