17. Kapitel

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Flo lief die Treppen nach oben so schnell er konnte ohne zu rennen. Er hatte sich vorne am Infoschalter zurückgemeldet, nachdem sein Vater ihn wieder zurück gebracht hatte. Dani hatte keine Zeit gehabt, weil er arbeiten musste. Das erste was er machen würde, wenn er hier draußen war, war definitiv sein Führerschein. Vorausgesetzt natürlich, er fand genug Zeit zwischen dem Training.
Jetzt freute er sich erstmal darauf Kai wieder zu sehen. Die Tage ohne Freunde in der anderen Klinik waren unglaublich langweilig gewesen. Er wusste nicht, wie er das vor Kais Ankunft hier durchgehalten hatte.
Schnell schloss er sein Zimmer auf, schmiss seinen Koffer hinein und ging sofort wieder, allerdings nicht ohne das Fenster weit aufzureißen, denn die Luft war nach den Tagen abgestanden und stickig. Dann befand er sich auch schon wieder im Gang und lief mit zügigen Schritten auf die Zimmertür seines Freundes zu. Doch kurz davor stockte er. Aus Kais Zimmer drangen Stimmen. Beziehungsweise eine Stimme. Die Stimme einer weiblichen Person, eindeutig. War Kais Freundin vorbeigekommen? Sie war bis jetzt nur zwei mal da gewesen, weil sie studierte, doch Flo hatte die beiden bei ihren Treffen immer alleine gelassen, damit sie Zeit für sich hatten.
Trotzdem klopfte er nach kurzem Überlegen an die Zimmertür. Wenn sie wirklich da war, würde er nur kurz hallo sagen und wieder gehen. Wenigstens hätte er dann genug Zeit seinen Koffer auszupacken, dachte er, während er die Tür öffnete und den Kopf hereinstreckte. Die Person, die bei Kai neben dem Bett auf einem Stuhl saß, hatte zwar braune Haare, wie seine Freundin, aber es war eindeutig nicht sie, dafür war sie viel zu groß. Er erstarrte, als er erkannte, wer da auf dem Stuhl saß. Er hätte diese Person überall erkannt. Immerhin war sie einer der ersten gewesen, die er gesehen hatte, nachdem er aufgewacht war. Es war Linda.
„Linda?!", Flo starrte sie mit offenem Mund an. Kai konnte sich sein Grinsen nicht verkneifen, ebenso wenig wie Linda selbst, die aufsprang, auf ihn zulief und sich ihm in die Arme warf. Flo umarmte sie für ein paar Sekunden, doch als er sie losließ konnte er es immer noch nicht richtig glauben: „Was machst du denn hier?" Sie grinste nur noch breiter: „Naja, Köln ist ja nicht allzu weit weg von Gladbach, da dachte ich ich komm einfach mal vorbei. Ich hab Urlaub und sowieso nichts besseres zu tun." Flo strahlte: „Das ist ja cool!"
Kai hinter ihr, der noch am Tisch saß, grinste: „Ich wusste, dich muntert das auf." Linda runzelte die Stirn: „Warum brauchst du was zum aufmuntern?" Flo zuckte nur mit den Schultern. „Ich komm grade aus München, wegen der Untersuchungen, von diesem Spezialisten." Sie nickte, sie wusste, wovon er sprach. „Naja, der hat genauso wenig gefunden. Sieht wohl so aus als würde ich mein Gedächtnis nie zurück bekommen." „Oh nein", Linda starrte ihn an, sie schien von der Diagnose geschockter als er selbst und umarmte ihn spontan noch einmal. Als sie ihn wieder losließ hatte auch Flo Tränen in den Augen. „Verdammt, das tut mir so leid für dich Flo!" Noch einmal zuckte er mit den Schultern und versuchte ein Lächeln, was ihm nicht wirklich gelang. „Wenigstens kann ich jetzt endlich richtig damit abschließen", seine Stimme klang rau. Kai war ebenfalls ganz still geworden.
Einen Moment schwiegen sie alle, dann räusperte sich Flo und sagte, an Linda gewandt: „Wollen wir vielleicht eine Runde spazieren gehen? Dann kannst du mich aufklären was so passiert ist in der Klinik." „Klar, können wir machen", antwortete sie, mit einem schon etwas zuversichtlicheren Lächeln. Flo wandte sich an Kai: „Willst du auch mit?" Der schüttelte den Kopf: „Ich glaub ihr zwei könnt ein bisschen Zeit für euch gut gebrauchen."
Diesen Wink mit dem Zaunpfahl verstand Flo erst ein paar Minuten später, als Linda und er schweigend draußen den Weg entlangschlenderten. „Ich und Malcolm sind nicht mehr zusammen", sagte sie unvermittelt. Flo warf ihr einen kurzen Blick zu: „Oh... ähm, das tut mir leid." Sie lachte. Er bemerkte sofort, dass es kein echtes Lachen war und war gleich darauf erstaunt wie gut er sie immer noch kannte: „Das muss es nicht. Wir haben nie zusammengepasst. Ich...", sie brach ab, als hätte sie sich gerade noch stoppen könne, bevor sie etwas Unüberlegtes sagte. Er fragte nicht weiter nach. Sie liefen ein paar Minuten lang, bevor wieder ein Wort fiel. Flo hatte die Hände in seinen Hosentaschen vergraben. Er fühlte sich unsicher. Wie sollte er auf das Geständnis reagieren? Sollte er sie noch einmal darauf ansprechen? Ihr sagen, dass sie immer mit ihm reden konnte, wenn sie wollte? Immerhin war sie andersherum immer für ihn da gewesen. Andererseits war er noch nie in so einer Situation gewesen und hatte keine Ahnung was er tun sollte.
Er war erleichtert, als sie wieder anfing zu sprechen und es offensichtlich wurde, dass sie das Thema wechseln wollte: „Und, du hast dich gut mit Havertz angefreundet?" Sie warf ihm einen Blick zu und lächelte. Er sah es nur aus dem Augenwinkel, sein Blick blieb auf den Boden vor ihm gerichtet. Aus irgendeinem Grund konnte er ihr nicht ins Gesicht schauen. Aber auch er lächelte, als er antwortete: „Ja. Wir verstehen uns echt gut." „Cool", sie legte für einen Moment den Kopf in den Nacken und genoss die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Dann lachte sie plötzlich: „Wusstest du, dass es Gerüchte gibt, dass er eigentlich schwul ist und mit diesem... Brandt zusammen ist?" Flo grinste: „Wundern würde es mich nicht. Nur leider hat Kai eine Freundin." Jetzt schauten sie einander doch an. Linda zuckte mit den Schultern: „Ich bin der lebende Beweis dafür, dass auch Beziehungen kaputt gehen können." Flo lächelte daraufhin nur. Und irgendwie schien dieses Lächeln den ganzen Nachmittag lang nicht zu verschwinden.

Abends lag Flo in seinem Bett und starrte an die Decke. Linda hatte spät Nachmittags wieder gehen müssen, nicht zuletzt, weil Flo auch noch auspacken musste und, auch wenn er es nicht zugeben wollte, die Tage in der anderen Klinik ihn angestrengt hatten. Sie hatte versprochen sich wieder bei ihm zu melden oder noch einmal vorbeizukommen und spätestens bei seinem Kontrolltermin in Mönchengladbach würden sie sich ja sowieso wiedersehen. Trotzdem hatten sie Nummern ausgetauscht und Flo hätte darüber nicht glücklicher sein können.
Er hatte noch 4 Wochen hier, bei Kai waren es 5, und danach würde er in seine alte Wohnung ziehen, in der er bereits vor dem Unfall gewohnt hatte. Dann würde er immerhin wieder in derselben Stadt wohnen wie Linda, vielleicht war dann auch mal ein Treffen möglich. Bei diesem Gedanken kam sofort wieder das Gesprächsthema ihres heutigen Besuches auf. Sie hatte wirklich mit ihrem Freund Schluss gemacht. Zum ersten Mal traute sich Flo wirklich über die Frage nachzudenken, die er jedesmal wieder verdrängt hatte, wenn er an Linda gedacht hatte.
Gab es, ganz, ganz eventuell, die Möglichkeit, dass er in sie mehr als nur mögen konnte? Irgendwie hatte er sich schon immer anders gefühlt, als in der Gegenwart von anderen Menschen. Aber war das wirklich dieses andere Gefühl? Die Antwort darauf, und da war Flo sich aus irgendeinem Grund sehr sicher, war nein. Er mochte Linda sehr gerne, aber wären da nicht die Andeutungen von Dani, seiner Mutter und Kai gewesen, hätte er nie ernsthaft über Liebe nachgedacht. Das Gefühl, dass dem am nächsten kam, das er bei Linda hatte, war das, das er hatte, wenn er mit Dani und Niki zusammen war. Ja, sie war wirklich am ehesten wie eine große Schwester für ihn.
Und während er noch über das alles nachdachte, drehte er sich zur Seite und war nur wenige Minuten später auch schon eingeschlafen:

Er befand sich in dem Wald. Den Wald, den er von seinen nächtlichen Ausflügen dorthin schon kannte. Wie immer landete er auf genau derselben Stelle, doch dieses Mal war nicht Winter. Es schien Herbst zu sein, ein kalter Wind wehte und Flo zog fröstelnd die Schultern hoch. Der Himmel war von dunklen Wolken bedeckt, es konnte nicht mehr lange dauern bis ein Gewitter losbrechen würde. Dunkel fragte sich Flo, ob er nicht lieber aus dem Wald verschwinden sollte. Es wäre gefährlich hier zu bleiben. Aber irgendetwas im in seinem Inneren schien ihn immer weiter zwischen die Bäume drängen zu wollen. Und dieser Teil überwog definitiv dem anderen, vermutlich vernünftigeren, in ihm. Trotzdem wusste er aus irgendeinem Grund, dass er leise sein musste und so schlich er den Weg entlang, darauf bedacht nicht einen Zweig zu zerbrechen. Er kannte diesen Weg, auch wenn er nicht sagen konnte woher. Seine Augen huschten wachsam hin und her und er zuckte heftig zusammen, als plötzlich ein Vogel neben ihm aufflatterte und in den nächsten Baum flog. Vielleicht hätte er sein Ziel erreicht, von dem er weder wusste was es war, noch woher er wusste, dass es da war, wenn da nicht die Stimme gewesen wäre. Die Stimme des Mädchens, die er auch schon aus seinen anderen Träumen kannte: „Flo! FLORIAN...", der Wind wurde jetzt stärker, er verwischte ihre Stimme und für einen Moment hörte nichts mehr. „Wie konntest du das tun?!", ihre Stimme brach. „Du hast mich verlassen! Du hast dein Versprechen gebrochen! Denk an dein Versprechen!" Er versuchte zu antworten, gegen den Wind anzuschreien, der seine Stimme von ihr wegtragen würde und versuchte gleichzeitig zu erkennen, wo sie sich befand. „Was für ein Versprechen? Ich weiß nichts von einem Versprechen!" In der Ferne begann Donner zu grollen. Der Himmel verdunkelte sich. Flos Herz hämmerte. Der Wind pfiff ihm um die Ohren und ließ die Bäume um ihn herum erzittern. Aber er wusste, dass sie noch da war. Ihre Existenz war fast spürbar. Genauso wie ihr Vorwurf, der noch immer in der Luft hing. „Antworte mir doch!", flehte er. Er brauchte Antworten. Er konnte es nicht ertragen, sie nicht zu bekommen. „Dafür ist es jetzt zu spät", die Wörter waren nur ein Hauch. Fast nicht verständlich, durch den Wind eigentlich unmöglich. Und trotzdem verstand Flo jede einzelne Silbe. Dieser Satz traf ihn direkt ins Herz. Er wusste nicht wer da zu ihm sprach, er hatte keine Ahnung, wie er sie enttäuscht hatte. Er wusste nur, dass er es getan hatte und dass er alles tun würde, um es wieder gut zu machen.  „Bitte...", setzte er an, doch dann spürte er es. Sie war weg. Es gab nur noch ihn. Ihn, und die rauschenden Bäume um sich herum.

Mit klopfendem Herzen fuhr Flo hoch. Er hatte schon lange keine Träume mehr gehabt. Zumindest nicht so klare, die sich fast echt angefühlt hatten. Er versuchte sich zu beruhigen. Das war nur ein Traum, sagte er sich. Immer wieder. Irgendwann ging sein Atem langsamer und sein Herzschlag beruhigte sich wieder. Sein Blick fiel auf die Uhr, einen kleinen Wecker, der extra zum mitnehmen gedacht war, und die auf seinem Nachttisch stand und er stöhnte auf. Es war erst 4 Uhr morgens. Das wäre nicht weiter schlimm gewesen, hätte er jetzt weiter schlafen können. Was er nicht konnte. Er war hellwach. Seufzend ließ er sich wieder in die Kissen sinken. Sollte er zu Kai gehen? Nein, dann hätte er ihm alles erklären müssen und sein Freund wusste noch nichts von seinen Träumen. Und wenn es nach Flo ging sollte es auch so bleiben. Immerhin behandelten ihn sowieso alle als wäre er so zerbrechlich wie Glas, seitdem er den Unfall gehabt hatte. Da brauchte er nicht noch jemanden der von seinen psychischen Problemen wusste. Außerdem war das alles ja gar nicht so wichtig. Jeder hatte mal Alpträume oder? Er wollte sich nicht wie ein kleines Kind verhalten, dass danach nicht mehr einschlafen konnte und zu seinen Eltern ins Bett kroch, weil es sich sonst nicht sicher fühlte. Also würde er einfach versuchen wieder einzuschlafen.
Er gähnte, drehte sich auf die Seite und versuchte das nagende Gefühl zu ignorieren, dass irgendetwas an diesem Traum der Wahrheit entsprochen hatte.

- 08.11.21

AngelfootWo Geschichten leben. Entdecke jetzt