14. Kapitel

19 1 0
                                    

Flo ging nach dem Training sofort nach oben. Er wollte möglichst schnell duschen und danach schauen, ob Kai schon zurück war. Er hoffte für ihn, es war nicht zu schlimm. Nachdem er Kai kennengelernt hatte, hatte er ein wenig recherchiert und war dabei auch auf einen Artikel gestoßen, in dem gesagt wurde, man musste nach einem Achillessehnenriss unbedingt langsam und schonend wieder anfangen zu trainieren, da leicht etwas schief gehen konnte. Hoffentlich war Kai nichts schlimmeres passiert, vor allem nicht, als er mit Flo trainiert hatte, denn das würde er selbst sich nie verzeihen, immerhin hatte Kai das nur für ihn getan.
Nachdem er fertig war, schaute er auf die Uhr. Mittlerweile sollte Kai wirklich zurück sein. Immerhin war er morgens gegangen und jetzt war es bereits abends. Schnell verlies er sein Zimmer und lief den kurzen Gang entlang, der zu Kais Zimmer führte, an dem er anklopfte. Zu seiner Erleichterung erklang nach kurzem ein „Komm rein", von innen.
Kai lag auf dem Bett, hatte ein Kühlpack um seine Sehne und den Fuß hochgelagert. Als Flo hereinkam, schaute er von seinem Handy, das er in der Hand hatte, auf und lächelte. „Hey", sagte Flo und versenkte beide Hände in seinen Hosentaschen. Kais Zimmer war ähnlich seinem eigenen eingerichtet, er hatte dieselben Möbel, allerdings standen Tisch und Schrank zusammen an einer Wand und nicht, wie bei Flo, an unterschiedlichen.
„Hallo", antwortete Kai und tippte schnell etwas in sein Handy ein, bevor er ihm einen Platz anbot: „Setz dich."
Flo nahm sich einen Stuhl, der am Tisch gestanden hatte und zog ihn neben das Bett, sodass er sich falsch herum darauf setzen konnte. Mit den Armen stützte er sich auf die Lehne, dann fragte er: „Wie gehts?"
Kai seufzte: „Ich darf eine Woche nicht weitermachen." Er hob sein Handy: „Ich hab eben dem Management Bescheid gesagt, mit denen muss ich nachher nochmal telefonieren."
Flo seufzte: „Tut mir leid." Aber immerhin, es schien nichts schlimmeres zu sein. Trotzdem, eine Pause grade als er wieder anfing zu trainieren, konnte nicht schön sein. Er wusste nie, was er auf so etwas sagen sollte. Kai tat ihm auch wirklich leid, aber ‚tut mir leid' hörte sich einfach so... unpersönlich an, als würde ihn das alles gar nicht interessieren. Zum Glück schien Kai nichts daran zu finden, denn er zuckte nur mit den Schultern: „Naja, es ist wie es ist, ich kann's nicht ändern." Er grinste: „Wenigstens kann sich Alex dann wieder voll auf dich konzentrieren und wird von mir nicht abgelenkt."
„Haha", sagte Flo und verdrehte die Augen: „Ganz klasse, ich hatte grade keinen Muskelkater mehr." Kai lachte und einen Moment später stieg auch Flo mit ein.
Irgendwann, nachdem Flo fast keine Luft mehr bekam, verstummten sie und eine Weile herrschte Schweigen. Schließlich sagte Kai: „Darf ich dich mal was fragen?" Flo nickte: „Klar." „Wie fühlt sich das an?", Flo schaute ihn fragend an. Was meinte er? „Das Gedächtnis zu verlieren? Das muss sich doch anfühlen als würde dir der Boden unter den Füßen weggerissen werden."
„Mmmh", Flo überlegte einen Moment. „Irgendwie ist es das auch. Aber andererseits... wenn ich nicht weiß, was ich vergessen habe, weil ich es ja vergessen habe, dann kann ich es auch nicht richtig vermissen. Weißt du, was ich meine? Ich meine... meine Eltern und meine Brüder erzählen mir zwar alles, aber irgendwie fühlt sich das an, als ob ich es nie erlebt habe. Als ob ich einfach hier und jetzt in ein Leben geworfen wurde und mein Leben grade erst begonnen hat." Flo schloss für einen Moment die Augen, ließ die Erinnerungen, die er hatte, an sich vorbeiziehen. Der Geruch des Waldes, durch den er an seinen Tagen im Krankenhaus immer gegangen war, das Lachen seiner Familie, als sie zusammen den Film geschaut hatten, die Aufregung, als Max Eberl kurz davor war, seine Diagnose zu verkünden und die Freude, als er wieder Fußball gespielt hatte. „Aber dadurch genieße ich mein Leben irgendwie auch viel mehr. Ich hab gemerkt, es kann jeden Augenblick vorbei sein und einen Neuanfang bekommen und den will ich nutzen."
Er öffnete seine Augen und sah wie Kai ihn mit offenen Mund, den er schnell wieder schloss, ansah. „Wow. Das hätte ich mal aufnehmen müssen, für die Tage an denen ich keine Motivation für nichts habe."
Flo grinste: „Kannst sie dir ja aufschreiben und dann durchlesen."
„Klar", antwortete Kai. „Ich...", in diesem Moment begann sein Handy zu klingeln und unterbrach ihn. Er warf einen schnellen Blick darauf: „Das ist mein Management. Sorry, da sollte ich wohl rangehen." „Mach das", antwortete Flo, stand auf und streckte sich. „Ich geh wohl auch besser mal rüber, damit ich morgen früh das laufen schaffe. Ich schau dann später mal bei dir vorbei." „Ok", Kai grinste und hob zum Abschied nur noch einmal die Hand, weil er schon abgenommen hatte und auf der anderen Seite der Leitung begrüßt wurde.
Flo ging so leise wie möglich nach draußen, um ihn nicht zu stören, schloss die Tür und machte sich dann auf den Weg in sein eigenes Zimmer. Morgen war schon Freitag, das bedeutete übermorgen würde Gladbach gegen Leipzig, abends im Topspiel, spielen. Kais Leverkusener erst am Sonntag, gegen Werder Bremen. Sie hatten schon geplant die Spiele zusammen zu gucken, Flo freute sich bereits riesig darauf.
In seinem Zimmer angekommen setzte er sich auf sein Bett und zog sein Handy hervor, um auf die Uhr zu schauen. Es war erst halb acht. Er schnaubte. Von wegen jetzt schon ins Bett. Irgendwie hatte er das Gefühl gehabt es wäre schon viel später.
In diesem Moment bekam er eine Benachrichtigung: Rückblick vom 20.01.2018: daneben war in winzig klein ein Bild eingeblendet, auf dem Flo sich selbst erkannte. Neugierig klickte er auf die Mitteilung und fand sich in seiner Galerie wieder. Komisch, warum war er nur nicht darauf gekommen dort mal nach zu schauen? Natürlich gab es dort auch noch Bilder von vor seiner Zeit im Krankenhaus.
Ein bizarres  Gefühl durchflutete ihn, als er ganz nach oben scrollte; er würde bei den ältesten Bildern beginnen und sich dann alle anschauen. Sein letztes Bild war... ein Video. Es war von 2016 und als er daraufklickte, war ein Fußballfeld zu sehen. Zuerst kapierte er nicht ganz, was passierte, offenbar war die gegnerische Mannschaft im Ballbesitz, einer der anderen Spieler nahm ihnen den Ball ab und versenkte ihn von der Mittellinie aus im Tor. Erst als er sich das Video ein zweites und drittes mal ansah, verstand er, dass er dieser Spieler war. Offenbar kam das Video aus Zeiten, als er noch bei 1860 München gespielt hatte. Er lächelte. Also konnte er wirklich ganz gut Fußball spielen. Ihm hatte bis jetzt jeder gesagt, er wäre ein großes Talent, aber bis jetzt war er noch nicht auf die Idee gekommen, sich selbst anzuschauen - was genauso doof war, wie nicht in seinem Handy nach Fotos zu schauen, wenn er richtig überlegte.
Mit dem stummen Versprechen, gleich noch einmal seine Galerie durchzugehen, wechselte er zu YouTube und gab in die Suchleiste seinen eigenen Namen ein. Natürlich kamen erst einmal Berichte über seinen Unfall, aber nach einer Zeit fand er ein Video, das ‚Florian Neuhaus - best moments' genannt worden war. Es startete mit demselben Video, dass er sich eben schon angeschaut hatte. Danach folgte ein Zusammenschnitt aus ein paar Toren, Dribblings und vor allem Pässen nach vorne auf einen Stürmer, die oft zu einem Tor führten. Hätte Flo nicht gewusst, dass das er selbst war, wäre er wohl beeindruckt gewesen. So fand er an vielen Stellen Kleinigkeiten, die er hätte anders oder besser machen sollen und schaute sich oft Szenen mehrmals an, nur um sie dann zu kritisieren.
Als er das Video ganz angeschaut hatte, schaltete er kurz sein Handy aus und machte für einen Moment die Augen zu, um sich darüber Gedanken zu machen. Er hatte gesehen zu was er fähig war. Er hatte gesehen, wo er welche Fehler machen. Er wusste, was er zu verbessern hatte. Und, wie die letzten Wochen immer wieder, sagte er sich in diesem Moment, dass er es wieder zurück auf den Fußballplatz schaffen würde.

Den restlichen Abend verbrachte er damit durch seine Galerie zu scrollen. Er hatte erstaunlich wenige Bilder - dafür, dass es 2016 angefangen hatte. Die meisten waren Bilder mit Niki, Dani oder seinen Eltern, wobei diese nicht überwogen, von ihm in jüngeren Jahren, mit seinen Freunden beim feiern oder Videos von ihm beim Fußball spielen und mit seinen Teamkameraden. Er schien nichts anderes zu tun gehabt zu haben. Außer Fußball hatte er keine anderen Hobbys gehabt. Das gefiel ihm nicht besonders. Er liebte Fußball über alles, aber sein ganzes Leben davon einnehmen zu lassen? Irgendwann reichte es doch auch mal, wofür hatte er schließlich Freizeit? In diesem Moment beschloss Flo sich noch irgendein anderes Hobby zu suchen, was auch immer es war. Vielleicht konnte er bald mal seine Teamkameraden fragen, was sie so als Ausgleich betrieben. Irgendetwas würde ihm davon schon gefallen.
Als er das nächste mal auf die Uhr schaute, war es bereits viertel vor 10. Müde, weil er am anderen Tag so lange aufgeblieben war, machte er sich jetzt schon fertig und fiel dann ins Bett, um noch etwas in einer Zeitschrift zu lesen, die er in dem kleinen Laden der Klinik gekauft hatte.
Es gab ein paar Transfergerüchte für den Winter, allerdings weder viele, noch spannende, da es noch eine Weile hin war, bis die Bundesliga in die Winterpause gehen würde. Ein Verein wurde regelrecht für die schlechten Leistungen in der letzten Zeit verspottet. Und... interessanterweise gab es auch einen kurzen Artikel zu Gladbach und ihrer neusten erfolgreichen Spiele, den Flo neugierig zu lesen begann:

Borussia auf dem Erfolstrip - greifen die Fohlen jetzt nach der Championleagueplätzen?
Für Borussia Mönchengladbach begann die Saison alles andere als rosig. Florian Neuhaus, gesetzte Mittelfeldkraft, hatte kurz nachdem Borussia Mönchengladbach in die Vorbereitung gestartet war, einen schweren Autounfall, nach dem er ins Koma fiel.
Die Mannschaft war geschockt - gewann kaum eines der Test- und ersten Bundesligaspiele und leistete sich fatale Fehler. Hinzu kam, dass die Chancenverwertung deutlich zu wünschen übrig lies.
Um die Mannschaft um Adi Hütter stand es nicht gut, sie rutschten beinahe auf einen Abstiegsplatz. Die Neuzugänge schlugen nicht ein und Max Eberl hatte mit Vorwürfen zu kämpfen. Doch nach einer Weile schien eine Wende in Aussicht. Diese begann mit einem Sieg gegen, ausgerechnet, die Kölner, die ebenfalls in der unteren Tabellenhälfte dabei waren.
Danach begann eine Siegesserie, in der man unter anderem auch gegen Bayern München gewann und nun nehmen die Fohlen offenbar Kurs auf Championsleague - immerhin ist auf Konkurrent Bayer Leverkusen, der auf dem begehrten 4. Platz steht, nur noch ein Punkt aufzuholen.  Bei dem Programm, das bei beiden Mannschaften noch ansteht, bis es in die Winterpause geht, scheint die Borussia die besseren Karten gezogen zu haben. Die vermeintlich schwereren Gegner haben sie fast alle schon hinter sich. In der Pressekonferenz am letzten Freitag betonte Max Eberl, der Sportdirektor, zwar klar, dass es um das hier und jetzt gehe und der Tabellenplatz erst am Ende der Saison feststehe (man aber natürlich bis hier hin zufrieden sei, mit den Leistungen der Spieler und Trainer), allerdings bleibt der Traum um die Championsleague bei der Borussia wohl erhalten. Auch wenn, um Max Eberl ein weiteres mal zu zitieren, „noch ein langer Weg zu gehen ist".

AngelfootWo Geschichten leben. Entdecke jetzt