21. Kapitel

16 1 6
                                    

Montag.
Der Tag der Tage. Flo konnte sich nicht entscheiden ob er am liebsten für immer in seinem Bett liegen bleiben oder jetzt schon aufstehen wollte - und es war gerade 6 Uhr morgens. Sein Blick lag auf dem Zeiger des schwarzen Weckers, dessen weißer Zeiger sich immer und immer wieder im Kreis drehte. Noch viereinhalb Stunden. Drei, bis Chris ihn abholen würde. Er stöhnte auf und drehte sich auf die andere Seite.
Gestern Abend war es ihm zu seiner eigenen Überraschung relativ leicht gefallen einzuschlafen. Obwohl sich seine Gedanken nach wie vor gedreht hatten, war er innerhalb einer Viertelstunde, nachdem er das Licht ausgemacht hatte, eingeschlafen - zumindest schätzte er das. Er konnte ja schlecht in dem Moment auf die Uhr schauen in dem er einschlief. Auch die Nacht durch hatte er gut geschlafen. Bis er vor einer Dreiviertelstunde aufgewacht war und kein Auge mehr zu bekam. Er war hellwach. Doch trotzdem widerstand er dem Drang, aufzustehen und den Tag jetzt schon zu beginnen. Er wusste, so ziemlich alles heute würde anstrengend werden. Und obwohl er medizinisch als völlig gesund galt, wusste er selbst, dass er noch nicht ganz wieder auf der Höhe war.
Um halb sieben gab er es schließlich auf. Er konnte ohnehin nicht mehr einschlafen, da konnte er auch gleich etwas nützliches tun.
Gestern Abend hatte er keine Lust mehr gehabt, noch ewig seine Koffer auszupacken, deshalb fing er jetzt damit an. Zuerst ging er ins Bad. Seine Zahnbürste hatte er schon benutzt (logischerweise) und ein paar andere Sachen, die er brauchte, bevor er ins Bett ging, hatte er auch schon ausgepackt, deshalb war hier am wenigsten zu tun.
Als er gähnend zurück ins Schlafzimmer lief, überlegte er kurz, ob er nicht doch lieber noch einmal ins Bett gehen sollte. Eben war seine Müdigkeit noch weg weggeblasen gewesen, jetzt war sie mit voller Wucht zurückgekommen. Trotzdem beschloss er zuerst wenigstens einen Koffer auszupacken, bevor er heute zu gar nichts mehr kam, wobei in dem, den er jetzt ins Auge fasste sowieso seine Trainingsklamotten waren, die er nachher brauchen würde. Als er den Koffer öffnete, während er noch einmal gähnte, fiel ihm sofort etwas ins Auge, dass so gar nicht zu den restlichen schwarz-weiß-grünen Klamotten passte. Ein rotes Trikot, das ordentlich zusammengefaltet auf dem Rest lag. Als er es stirnrunzelnd auffaltete, fiel ihm ein Zettel entgegen. Zögernd hob Flo ihn auf und las:

Hey Flo!
Das hier ist mein kleines Abschiedsgeschenk für dich.
Das ist tatsächlich das Trikot von dem Tag, an dem wir das erste Mal
gegeneinander gespielt haben :) Ich hab es damals aufgehoben, weil
ich das Spiel toll fand (Wir haben gewonnen ofc).
Vielleicht revanchierst du dich ja beim nächsten Spiel mal mit deinem
Trikot :P
Kai

Flo lächelte, legte das Papier aus der Hand und strich einmal über den weichen Stoff des Trikots.
Eineinhalb Stunden später hatte er, obwohl er so ziemlich alles ausgepackt hatte was er hatte, seine Trainingstasche fertig war und er sogar seine Schuhe noch einmal grob saubergemacht hatte (obwohl die es eigentlich gar nicht nötig hatten), immer noch eine Stunde Zeit, bis Chris auftauchen würde. Spontan beschloss er in dem Café, in dem er gestern mit Dani war, frühstücken zu gehen.
Bevor er die Haustür hinter sich zuzog, kontrollierte er noch einmal, dass er wirklich alles hatte - Schlüssel, Geld, Jacke - und verließ danach das Haus.
Draußen regnete es mal wieder. Flo seufzte. Toller erster Trainingstag. Weil er nicht komplett nass werden wollte, joggte er die kurze Strecke bis zu dem Café. Die Tür stieß eine kleine Glocke an, die leise bimmelte, als er eintrat. Er war fast alleine im Laden. An einem der Tische las ein alter Mann Zeitung, während er ein Crossaint verspeiste und im hinteren Teil hörte er jemanden werkeln, der im nächsten Moment, offenbar durch das Klingeln angelockt, hinter die Theke trat. Eine junge Frau, mit fließend braunen Haaren, die sie im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, lächelte ihn an: „Guten Tag, was darfs denn- Flo!"
Flo starrte sie überrascht an, er brauchte einen Moment, bis er antwortete: „Äh- sorry, aber kennen wir uns?"
Die Frau schlug sich mit der Handfläche vor die Stirn, strahlte aber übers ganze Gesicht: „Oh, tut mir leid, du kannst dich ja gar nicht an mich erinnern. Ich bin Melina. Du warst öfter hier bevor... vor deinem Unfall. Wir haben uns echt ganz gut verstanden."
Flo war immer noch ein wenig verdattert: „Aber du... wir waren nicht- oder?"
Damit brachte er sie zum Lachen: „Was? Nein, ich bin seit 3 Jahren in ner glücklichen Beziehung. Aber wir haben immer viel geredet." Sie grinste: „Und du hast meine Schokobrötchen immer geliebt." Flo grinste: „Na gut, dann... nehm ich eins von den Teilen." Sie lächelte und nur eine Minute später stand das Brötchen mitsamt einem dampfenden Kakao - und Melina - vor ihm. Flo pustete, bevor er einen Schluck nahm - und verbrannte sich prompt. Melina setzte sich neben ihn: „Wie gehts dir denn? Maan, du hast ja keine Ahnung, was ich mir für Sorgen gemacht hab. Ich hab sogar versucht dich im Krankenhaus zu besuchen, aber die wollten mich nicht reinlassen. Wahrscheinlich dachten sie ich wär irgendein durchgeknallter Fan oder so." Sie schnaubte, als wäre selbst die Vorstellung undenkbar. Flo musste über ihre Empörung lächeln. „Mir gehts wieder gut", antwortete er, während er noch einen Schluck nahm. „Definitiv besser als als ich aufgewacht bin. Aber erzähl mal. Wie haben wir uns kennengelernt?"
Flo vergaß fast die Zeit, als er mit Melina redete. Wobei eigentlich eher sie erzählte, er zuhörte und ab und zu seinen Teil beitrug. Er konnte verstehen, warum er dieses Mädchen schon früher gemocht hatte. Obwohl sie redete wie ein Wasserfall und drohte nicht mehr damit aufzuhören, merkte man ihr ihre herzliche Art an. Und sie war total offen. Flo erfuhr in der Dreiviertelstunde, bevor er auf die Uhr schaute und mit Schrecken bemerkte, dass er gehen musste, alles über die letzte Reise von Melina gemeinsam mit ihrem Freund (obwohl sie hoffte bald seine Verlobte zu sein, sie glaubte da etwas erfahren zu haben), den neusten Klatsch und Tratsch über Personen die er allesamt nicht kannte und den erneuten Streit ihrer besten Freundin mit ihrem Partner, wobei deren Beziehung laut Melinas Aussage eher einem on-off entsprach als alles anderem. Und natürlich erzählte sie ihm auch wie sie und Flo sich kennengelernt hatten.
Sie hatte ihn bereits erkannt, als er das erste mal in das Café spaziert war, sagte sie. Zuerst war sie nervös gewesen, vorallem weil sie noch neu war und noch nicht oft alleine im Laden war. Doch nachdem er öfter gekommen war, hatte sie irgendwann den Mut gehabt ihn anzusprechen und seitdem waren sie - irgendwie - befreundet. Flo war froh, dass es anscheinend doch nicht nur seine Familie und Fußball in seinem Leben gegeben hatte, sondern auch Freunde. Auch wenn es nur sehr wenige waren, und eine davon sehr redselig, freute er sich doch, dass er wirklich nicht sozial komplett inkompetent war.
Trotzdem war er auch froh, als die Tür sich mit demselben Bimmeln, das ihn zu Anfang begrüßt hatte, wieder hinter ihm schloss und er für einen Moment die Ruhe (oder das, was man in einer Stadt als Ruhe bezeichnen konnte) genießen konnte. Danach musste er sich allerdings beeilen noch rechtzeitig nach Hause zu kommen, damit er noch seine Tasche holen konnte, bevor Chris pünktlich um 9 Uhr auf der Matte stand.

„Hallöchen", begrüßte Chris ihn, als Flo zu ihm ins Auto stieg. „Werf die Tasche einfach hinten auf den Rücksitz." „Danke nochmal fürs mitnehmen", sagte Flo, nachdem er Chris Befehl befolgt und sich danach angeschnallt hatte. Sein Blick fiel auf die Uhr: „oder eher hinbringen."
Chris warf ihm einen kurzen Seitenblick zu und grinste: „Kein Problem, echt. Ich lass dich doch jetzt nicht im Stich." Für einen Moment herrschte Schweigen, nur die Scheibenwischer, die ohne Unterbrechung Wasser von der Frontscheibe wischten, durchbrachen die Stille. „Also, was gibts neues?", fragte Chris irgendwann. Flo warf ihm seinerseits einen Blick zu: „Was meinst du?" Chris hielt den Blick auf die Straße gerichtet, lächelte aber: „Du hast mir morgens immer alles von jeder internationalen Liga erzählt. Durch dich bin ich da echt immer auf dem neusten Stand gewesen. Ich muss aber zugeben, dass das ziemlich gelitten hat, in der Zeit in der du nicht da warst."
Flo fiel auf, dass er mit keinem Wort weder den Unfall, noch seinen Krankenhaus- und Reha Aufenthalt erwähnte, sagte aber nichts dazu. Er mochte es, wie Chris damit umging. Stattdessen antwortete er auf seine ursprüngliche Frage: „Ehrlich gesagt weiß ich da selber nicht ganz so viel. Das alles hat mich ganz schön auf Trapp gehalten." "Na gut", Chris grinste. "Dann müssen wir uns beide wohl bis morgen informieren." "Mmmh", machte Flo, danach herrschte wieder für einen Moment Schweigen.
"Bist du aufgeregt?", fragte Chris schließlich. Flo seufzte, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen, während er an alles dachten, was ihn so erwartete. Er würde erst medizinische Checks durchlaufen müssen, dabei ganz nebenbei erfahren, wie fit er wirklich war und wie lange es vermutlich dauern würde, bis er wieder ein Bundesligamatch bestreiten konnte und danach das erste Teamtraining seit Monaten zumindest begleiten. Er machte sich nichts vor, er wusste, dass zumindest einige seiner Teammitglieder, wahrscheinlich vor allem die, mit denen er auch vor seinem Unfall nicht so viel zu tun gehabt hatte, ziemlich unbeholfen mit der ganzen Situation umgehen würden und darauf hatte er gar keine Lust. Trotzdem, es galt nun erst einmal diesen Tag, diese Woche und vermutlich auch diesen Monat zu überstehen, danach würde wahrscheinlich sowieso alles besser und leichter für ihn werden.
Erst als er seine Augen wieder öffnete und Chris anschaute, antwortete er ihm: "Wie sollte ich denn nicht aufgeregt sein?"
Chris lachte. "Das wird schon Flo. Ich an deiner Stelle hätte wahrscheinlich so Schiss, dass ich gar nicht erst auftauchen würde."
Auch Flo musste lächeln: "Neein, das stimmt nicht. Du würdest wiederkommen, egal, was passiert."
Chris verzog das Gesicht, antwortete aber nicht, sondern deutete stattdessen mit einer Hand durch die Frontscheibe: "Schau mal, da ist der Borussia-Park." Mit einem Mal war Flo vollkommen von der Aufregung gepackt. Nervös strich er sich einmal durch die Haare: "Oh Gott Hilfe, ich kann das nicht." "Ach Quatsch", antwortete Chris. "Du schaffst das." "Mhmh", war alles, was Flo herausbrachte. Er spürte ein Kribbeln im Bauch, das immer stärker wurde, je näher sie dem Stadion und dem daran angeschlossenen Trainingsgelände kamen. Er hatte erwartet aufgeregt zu sein, aber definitiv nicht dieses Level.
Auf dem Gelände angekommen manövrierte Chris seinen Wagen durch ein Labyrinth aus verwaisten Parkplätzen, die sich nur durch ihre zugewiesenen Nummern unterschieden. Das Stadion, das mit jedem Meter den sie näher kamen, immer größer und bedrohlicher wirkte, schien in dem Licht der Sonne, die noch tief am Himmel stand, zu leuchten. Der Nebel, der dazu noch wie ein Schleier überall lag, verlieh dem ganzen einen unheimlichen Glanz, aber wenigstens hatte es aufgehört zu regnen.
Als Chris an einem Metalltor anhielt, um einen Code einzugeben und damit auf den Teil des Geländes zu kommen, der ausschließlich dem Team, Stuff und allem drum und dran zugewiesen war, fuhr Flo das Fenster herunter, streckte den Kopf heraus und musste ihn in den Nacken legen, um das Dach des Stadions erkennen zu können.
"Brrrrh, mach zu, es ist kalt", sagte Chris, als das Tor sich geöffnet hatte und er weiterfuhr. Schnell ließ Flo sich wieder in seinen Sitz sinken und fuhr die Scheibe nach oben. "Wie viele Fans passen da rein?", fragte er Chris und deutete auf den Borussia-Park. "54.000", antwortete er, während er geschickt in einer Parklücke einparkte. Als er das Auto abstellte, schaute er Flo an und grinste: "Fühlt sich aber wie das doppelte an, wenn die Hütte richtig brennt." Das brachte auch Flo zum Lächeln, allerdings stieg seine Aufregung noch weiter und deshalb beschränkte er sich darauf.
Ein wenig zögernd öffnete er die Tür und schaute er sich kurz um. Er hatte erwartet, den Parkplatz fast leer vorzufinden, allerdings standen schon erstaunlich viele Autos überall verteilt. Vielleicht ein paar Mitarbeiter, immerhin hatte ja nicht jeder den Luxus erst um 9:30 morgens anzufangen. Chris riss ihn aus seinen Gedanken. Auch er war ausgestiegen, hatte das Auto umrundet, streckte ihm schon seine Tasche entgegen, an die Flo selbst nicht mehr gedacht hatte, und strahlte ihn an, während er sagte: "Wollen wir? Ich zeig dir noch wo du lang musst."
Flo zwang sich zu einem Lächeln und nickte noch einmal: "Dann wollen wir mal."

... und damit wünschen ich allen ein frohes neues Jahr :)

AngelfootWo Geschichten leben. Entdecke jetzt