27. Kapitel

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Flo hatte lange keine Träume mehr gehabt. Er wusste nicht einmal mehr genau, wann der letzte Traum, den er hatte, gewesen war. Doch in dieser Nacht kehrten die Albträume zurück, die er nach seinem Unfall immer wieder gehabt hatte. Er konnte sich nicht mehr an viel erinnern, als er aufwachte, er wusste nur noch, wie wirr alles gewesen war.
Sein Traum bestand hauptsächlich aus Kindern, deren Gelächter in seinen Ohren widerhallte. Aus irgendeinem Grund war der Santa Klaus dabei, der sie mit einer Weihnachtsmütze auf dem Kopf durch die Gänge jagte. Er und ein Mädchen versteckten sich im Wandschrank vor ihm. Dann befanden sie sich plötzlich gemeinsam im Wald und plantschten durch einen Fluss, während die Sommersonne sie wärmte. Es waren noch ein paar andere Kinder dabei, mit denen sie verstecken spielten. Flo traute sich am weitesten von ihrem kleinen Strand weg in den Wald hinein und versteckte sich in der Wurzel eines umgeknickten Baumes. Er hörte seinen Freund „ZEHN!" schreien und wartete geduldig - doch niemand kam. Nach mehreren Minuten warten stand er enttäuscht auf. Er hatte sich doch nicht das beste Versteck aller Zeiten ausgesucht, um dann nicht gefunden zu werden. Erst als er sich ein paar Schritte von der Wurzel entfernt hatte, fiel ihm auf, wie kalt es auf einmal geworden war. Fröstelnd zog er die Schultern hoch. Wolken verdunkelten die eben noch strahlende Sonne und mit einem Mal wurde er nervös. Er wollte nach Hause. Aus welcher Richtung war er gekommen? Er schaute sich um, doch mit einem Mal war er sich unsicher. Etwas kaltes traf sein Handgelenk. Erstaunt schaute er nach unten und sah, dass es eine Schneeflocke gewesen war. Verwirrt schaute er nach oben zum Himmel. Tatsächlich, es fing an zu schneien. Aber das konnte doch gar nicht sein. Es war doch Sommer. Die Flocken wurden immer dichter - und damit nahm auch seine Angst zu. Er schluckte, drehte sich einmal im Kreis und versuchte den Weg zurück zu den anderen zu finden. Doch jetzt, schon mit Schnee bedeckt, sah alles anders aus. Er versuchte zu rufen, die Namen seiner Freunde, doch niemand antwortete. Das einzige, was er hörte war das Ticken einer Uhr, das immer weiter anschwoll, bis der Ton so laut wurde, dass er sich die Hände auf die Ohren presste. Er wollte doch nur nach Hause.
Als er aufwachte, war er schweißgebadet und zitterte am ganzen Körper. Später, auf dem Weg zu seiner Familie, versuchte Flo nicht zu viel über alles nachzudenken, doch trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass irgendetwas in ihm wachgerüttelt worden war.
    Dani hatte ihn abgeholt, gemeinsam mit Niki, und die beiden hatten viel zu erzählen. Niki hatte seine schriftliche Führerscheinprüfung - natürlich - ohne Probleme bestanden. Er hatte bereits seine ersten Fahrstunden gemacht und war begeistert. Irgendwann, als er anfing verschiedene Vor- und Nachteile von Motorrädern aufzuzählen, hörte Flo auf ihm zuzuhören und tauschte nur mit Dani verstohlene Blicke aus, der ihm mit einem Augenverdrehen sagte, wie oft er sich diesen Vortrag schon anhören durfte. Flo grinste und schaute schnell wieder nach vorne, bevor Niki es sah.
    Glücklicherweise dauerte es nicht lange, bis sie bei ihm zu Hause ankamen. Flo starrte fasziniert aus dem Fenster. Hier in Bayern lag bereits Schnee, der sich wie Puderzucker über den Wäldern und Wiesen verteilt hatte. Es sah wunderschön aus. Sie fuhren eine Straße entlang, die sie durch ein verschneites Dorf führte, das in dem Flos Eltern und Niki lebten, und er konnte den Blick nicht mehr abwenden, bis sie bei ihrem Ziel ankamen. Flo war schneller aus dem Auto als alle anderen, holte seinen Koffer aus dem Auto und zog ihn in Richtung Haus, als die anderen gerade erst ausgestiegen waren. Auf halbem Weg wurde ihm die Tür bereits geöffnet. Eine hübsche junge Frau stand dort und lächelte ihnen entgegen. Flo hatte sie noch nie gesehen und warf einen verblüfften Blick zurück zu Dani, der ein paar Meter hinter ihm ging. Ah, okay. Bei seinem verträumten Blick war alles klar.
„Flo", sagte Dani, „das ist Tessa." Flo zog überrascht die Augenbrauen hoch, beschloss aber später nach mehr Details zu fragen und ging stattdessen zur Tür, um ihr die Hand zu schütteln. „Hi", begrüßte er sie. „Hallo", sie lächelte immer noch freundlich, aber ihre Augen musterte ihn einmal von oben bis unten. „Du musst Flo sein." Er grinste: „Genau der bin ich."
Jetzt waren auch Dani und Niki bei ihnen angekommen. Dani begrüßte seine Freundin mit einem Kuss, Niki schlug nur im Vorbeigehen in ihre Hand ein, die sie ihm hinhielt. Drinnen zogen sie sich die Schuhe aus, dann brachte Flo als aller erstes seinen Koffer nach oben in sein altes Kinderzimmer. Dani bot an ihm zu helfen und so standen sie fünf Minuten später zwischen Flos alten Kuscheltieren und einem Bayern Poster (von dem Flo komischerweise das Gefühl hatte, dass Thomas Müller ihn beobachtete, was er ein bisschen gruselig fand) und sprachen über Danis Liebesleben.
    Sobald sie beide im Raum waren schloss Flo leise die Tür und schaute Dani an. Der kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Äääh ja." Flo zog die Augenbrauen hoch und grinste: „Was hab ich verpasst?" Dani lächelte ebenfalls, fast schon ein wenig schüchtern: „Ich wollte dir das eigentlich persönlich sagen, eben im Auto, aber dann hat Niki nicht mehr aufgehört zu reden und genau." Flo lachte: „Ja, ich hätte nie gedacht, dass man so lange über ein einziges Motorteil reden kann." „Warte erstmal bis zum essen, Dad ist jetzt auch voll drin in dem Thema." Auch Dani lachte. „Oh Gott", murmelte Flo, hatte aber noch eine Frage zu Tessa: „Seit wann kennt ihr euch?" „Also Niki und ich kennen uns seit 16 Jahren", antwortete Dani. Flo verdrehte nur die Augen. „Tessa und ich seit zwei Monaten, falls du das meinst." Flo nickte. „Find ich cool." Dani lächelte erneut: „Ich auch."

    Die Tage bei seiner Familie vergingen wie im Flug. Flo blieb bis zum 2. Weihnachtsfeiertag und wurde am 27. Dezember wieder zurück gefahren. Sie hatten sich viel zu erzählen, vor allem seine Eltern gaben ein paar Anekdoten von Dani, Niki und Flo zum besten. Flo hatte selten so viel gelacht, die Tage erinnerten ihn ein wenig an seine Zeit im Krankenhaus. Dort hatte er jeden Tag ein paar Stunden mit seiner Familie verbringen können.
Irgendwann gingen sie dazu über, die witzigsten Torjubel von verschiedenen Spielern herauszusuchen und den jeweils anderen zu zeigen. Niki wurde knallrot, als er zuerst auf einem, dann auf 3 Bildschirmen gleichzeitig zu sehen war, wie er immer denselben Jubel machte. Es sah aus wie eine Mischung aus Ronaldos Jubel und der Nachahmung von einem Flugzeug. Flo, der diese Szenen zum ersten mal sah, legte den Kopf schief und grinste: „Was machst du denn da?"
    Niki warf ihm einen verlegenen Blick zu: „Sieht man doch." Dann schoss ihm offenbar eine Idee durch den Kopf: „Heyyy, was muss ich machen damit du das nach deinem nächsten Tor machst?" Flo prustete los. „Erstens bin ich nicht mal richtig im Teamtraining und werd nicht so bald wieder Tore schießen und zweitens...; nein." „Ooooch", Niki tat gespielt beleidigt, doch als Flo als nächstes eine Szene von Chris aus dem Training zeigte, die er gefilmt hatte, war die Sache schon wieder vergessen.
    Am 24. Dezember machten sich die 5 gemeinsam einen gemütlichen Tag. Draußen schneite es, was Flo nun nicht mehr schön fand, sondern ihn an seinen Traum erinnerte, den er die letzten Tage erfolgreich verdrängt hatte. Deshalb gingen sie auch nicht nach draußen, sondern schauten zusammen ein paar Weihnachtsfilme. Abends aßen sie gemeinsam, bevor sie unter dem Baum Geschenke auspackten. Flo hatte natürlich (mit ein wenig Hilfe von Chris) für jeden etwas besorgt und es mehr schlecht als recht eingepackt. Allerdings sahen seine Geschenke immer noch besser aus als die von Dani, die aussahen als hätte er sie in altes Papier eingewickelt und danach mit einem Haufen Klebeband umwickelt.
    Von seinen Eltern bekam er neue Fußballschuhe und Dani und Niki hatten zusammengelegt für eine neue Sporttasche.
    Es war seit langem die besten Tage, die Flo verbracht hatte. Kein Druck vom Fußball oder irgendwelchen Zeitungen (die seit Wochen ausrechneten wann er endlich wieder fit war), keine Trainingspläne, einfach nur seine Familie und er, die zusammen Spaß hatten. Die Woche ging viel zu schnell vorbei, doch als er wieder vor seiner Wohnung stand und sich von seinem Vater verabschiedet hatte, der ihn dieses Mal gefahren hatte, sprudelte er förmlich vor Energie.
    Bis Silvester, das er mit Chris und ein paar anderen seiner Teamkameraden feiern würde, hatte er immer noch frei, aber hier in der Gegend kannte er sich aus, was bedeutete, dass er wenigstens mal eine ausgiebige Runde joggen gehen konnte. Sobald er seinen Koffer nach oben gebracht hatte, zerrte er ein paar Sportklamotten aus seinem Schrank und bereits 5 Minuten später befand er sich wieder draußen. Er atmete die frische, kühle Luft ein und lief los. Mittlerweile hatte sich seine Kondition so weit aufgebaut, dass er ohne Probleme auch ein paar Kilometer laufen konnte, deshalb verlies er sich auf seine Füße, das sie den Weg fanden und lies seine Gedanken schweifen.
    Zum ersten Mal, seit er zu seiner Familie gefahren war, dachte er wieder an seinen Traum. Es war seltsam, wie plötzlich er wieder angefangen hatte zu träumen. Davor hatte er monatelang nichts gehabt und sie waren auch nur diese eine Nacht zurückgekommen. Danach, bei seinen Eltern, war wieder alles gut. Flo blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass er nicht immer wieder solche Nächte haben und sich das Thema langsam aber sicher von alleine erledigen würde.
„Flo?!", Flo drehte sich überrascht um, als er eine Stimme hinter sich hörte. Hinter ihm stand ein junger Mann, vielleicht im Alter von Niki. „Florian Neuhaus?!" Er kam näher und Flo erkannte, dass er unter seiner Jacke einen Gladbachpulli trug. Bis jetzt hatte Flo Glück gehabt und war nicht auf der Straße angesprochen worden. „Hallo", er lächelte ein wenig schüchtern. Der junge Mann erwiderte sein Lächeln genauso vorsichtig. „Hallo. Ich... stör ich dich gerade?" Flo schüttelte den Kopf. „Nö, ich bin eh gerade fertig geworden", die Tatsache, dass sich seine Wohnung direkt um die Ecke befand, verschwieg er. „Können wir vielleicht ein Foto machen?" „Klar", Flo lockerte seine Muskeln ein wenig, während er sich neben den Fan stellte und in die Kamera lächelte. „Danke", der junge Mann strahlte. „Kein Problem", antwortete Flo, lächelte noch einmal, drehte sich jedoch schnell um und lief weiter, bevor eine unangenehme Stille zwischen ihnen ausbrechen konnte. Er joggte bis zu seiner Haustür und warf dort einen Blick auf seine Armbanduhr, die ihm zeigte, dass er 7 Kilometer gelaufen war. Diese Sache konnte er auf seiner Todo Liste abhaken. Er gähnte, öffnete die Tür und schloss sie wieder hinter sich. Jetzt würde er erst einmal sich einen Tee gönnen, um seine eiskalten Finger wieder aufzuwärmen.

- 08.09.22

AngelfootWo Geschichten leben. Entdecke jetzt