Angelfoot

40. Kapitel

„Vor 8 Jahren ist ein Krieg ausgebrochen. Santa hat dir ja schon von seoli und Agetaiso erzählt. In seoli gibt es... naja streng genommen sind es Verwandte von uns. Nicht direkt böse Engel, aber sie können mit Menschen relativ wenig anfangen. Und es gab schon immer Streitigkeiten, weil wir die Gesetze machen und euch, also die Menschen, dadurch schützen. Sie wollten mehr Macht, am liebsten über alle Welten und irgendwann... hat sich das alles zu einem Krieg gesteigert."
Niki hatte zwar keine Ahnung, wie das alles mit zusammenhing, was ihm passiert war, aber er hörte stumm zu.
„Das ganze hat ein Jahr angehalten und dann...", Flo holte einmal zitternd Atem. „Meine... Eltern haben beide mitgekämpft. Ich war noch zu jung, aber die Beiden hätten sich niemals hinter Soldaten versteckt. Meine Mutter ist verwundet worden, sie hat es nicht mehr rausgeschafft. Mein Vater... er war nicht immer so, wie du ihn eben erlebt hast. Aber nachdem meine Mutter", er schluckte, „gestorben war, ist er ausgetickt. Die gegnerische Armee hatte keine Chance mehr. Er hat sie quasi im Alleingang besiegt und dann mit deren König einen Handel ausgemacht. Was heißt Handel. Sie hatten eigentlich keine Wahl. Aber er hat die Familie des anderen Königs in Ruhe gelassen. Sie durften weiter regieren. Stattdessen hat er den Verlobten der Prinzessin... gefangen genommen. Er war der Meinung die Prinzessin und er wären zu mächtig. Irgendwann würden sie wieder einen Krieg beginnen und ihn diesmal gewinnen. Er musste irgendetwas tun. Hätte er die Königsfamilie angegangen, wäre der Krieg heute noch nicht zu Ende. Aber wie gesagt, die anderen hatten keine Wahl. Also hat ihr König zugestimmt."
Flo machte eine Pause, starrte immer noch an die Wand hinter Niki. Als würde er etwas ganz anderes sehen.
„Als sie ihn zu uns ins Schloss gebracht haben, hab ich mich rausgeschlichen. Ich war 11, aber ich wollte unbedingt mal einen von den anderen Engeln sehen. Der Typ war viel jünger, als ich gedacht hatte, nur 5 oder 6 Jahre älter als ich. Niemand hat mich gesehen, das waren die besten Wachen, die mein Vater hatte. Aber er hat sofort gemerkt, dass ich sie beobachtet hab." Er schauderte. „Ich werd diesen Blick niemals vergessen. Komplett kalt. Und seine Flügel waren so tiefschwarz, das hab ich noch nie gesehen. Das sah aus, als würden die jedes Licht verschlucken. Ich weiß noch, dass er mich angelächelt hat. Ich hatte wochenlang Albträume danach."
Flo verstummte, aber Niki zögerte trotzdem noch, bevor er eine Frage stellte: „Ist er immer noch dort?"
Flo nickte: „Das ist das ganze Problem. Die ersten paar Jahre war alles still. Sie haben sich ihre Wunden geleckt und bei uns ging alles wieder der alten Ordnung nach. Bis ich auf die Erde gekommen bin. Nach ein paar Wochen hat mich die Prinzessin gefunden. Sie hat ihren Freund wirklich geliebt.
Und dann wollte sie mich überreden ihn freizulassen. Erst hab ich mich geweigert. Dann hab ich versucht mit meinem Vater zu reden. Ich hab wirklich versucht, ihn zu überzeugen Niki. Aber wie gesagt, mein Vater war anders, nachdem meine Mutter gestorben war. Er hat sich komplett zurückgezogen, ich bin nie wieder richtig zu ihm durchgekommen. Und sobald ich mit dem Thema angefangen hab, hat er komplett zugemacht.
Die Prinzessin ist ausgetickt, als ich ihr gesagt hab, dass ich nichts machen kann, aber ich hätte nie gedacht... Sie hat mir gedroht. Gesagt ich würde das bereuen und so. Eine Woche später lag ich im Krankenhaus."
„Oh mein Gott", flüsterte Niki. Flo atmete einmal tief durch:
„Engel haben magische Kräfte. Jeder etwas andere, aber immer ähnliche. Und die aus seoli sind quasi genau das Gegenteil von unseren. Wir können zum Beispiel heilen. Haben Macht über Wasser, Eis und so."
    „Und du?", unterbrach ihn Niki. „Was hast du?"
    „Heilen, Wasser, Eis", zählte Flo auf, was er eben schon genannt hatte. „Wind, beziehungsweise Luft. Und", er lächelte, „Schnelligkeit. Wenn ich fit bin und Bock hab, kann ich in 5 Sekunden um das Schloss rennen."
    Niki starrte ihn mit großen Augen an: „Ist das normal?"
    Flo schüttelte den Kopf: „Normalerweise hat man immer nur eine Macht, oder zumindest nur eine, die so ausgeprägt ist. Aber es hatte eben auch einen Grund, warum meine Vorfahren zum König gekrönt wurden." Niki blinzelte ein paar mal, bevor er nickte und Flo weitererzählte. Das Lächeln verschwand vom Gesicht seines Bruders:
    „Jedenfalls; auch die Prinzessin hat Kräfte. Hauptsächlich über Feuer, Hitze und so. Aber wenn du von meinen schon beeindruckt warst, kannst du dir vorstellen, was sie für eine Macht besitzen muss. Es war schon immer einfach für Seolis irgendjemandem etwas einzureden, sie zu irgendetwas zu überzeugen. Aber die Prinzessin... sie kann Gedächtnisse verändern. Erinnerungen löschen, neue erschaffen und so."
    Niki schluckte, als ihm klar wurde, was sie getan hatte: „Sie hat dein Gedächtnis gelöscht."
    Flo nickte: „Das muss sie unglaublich viel Kraft gekostet haben. Sonst hätte sie euch wahrscheinlich einfach Erinnerungen... eingepflanzt, dass sie eine alte Freundin von mir ist oder so. Aber sie musste sich eine andere Methode suchen, um mich zu überwachen. Und wie gesagt, andere von etwas zu überzeugen ist ihnen schon immer leicht gefallen."
    Flos Stimme zitterte. „Wer ist sie?", fragte Niki, obwohl er nicht wusste, ob er die Antwort überhaupt wissen wollte. „Linda", antwortete Flo.
Niki hatte jede Antwort erwartet, gedacht dass ihn nach diesen Stunden nichts mehr schocken könnte. Aber das... seine gesamte Familie hatte ihr vertraut. Vertraute ihr noch immer. Das konnte katastrophal enden. Für alle, die er liebte.
Flo vergrub das Gesicht in den Händen, während er weitererzählte: „Sie hat das Krankenhaus überzeugt sie einzustellen, zumindest vermute ich das. Und sich dann in mein Leben eingeschlichen und sich als eine Freundin von mir ausgegeben."
Erinnerst du dich noch an den Typen, der sich als ihr Freund ausgegeben hat? Das ist die linke Hand des dunklen Königs. Wahrscheinlich sollte er sie kontrollieren." Er stieß ein bitteres lachen aus und schwieg dann erneut, so lange, bis Niki nachfragte: „Was ist dann passiert?"
„Bei dem Fußballspiel...", Flo zögerte. „Ich hab Kais Ellenbogen ins Gesicht bekommen. Keine Ahnung ehrlich gesagt, ob sie das auch irgendwie geplant hatte oder nicht. Aber es war jedenfalls die perfekte Gelegenheit, um mir mein Gedächtnis zurückzugeben. Ich bin zusammengeklappt und dann war alles wieder da. Und ich hab gemerkt, wie viele Fehler ich gemacht habe." Er hob den Blick und schaute Niki in die Augen. Pure Angst stand darin. Niki ahnte, dass er sie sonst, als Kronprinz, niemals so zeigen würde. „Ich hab ihr vertraut. Das ist das schlimmste, was ich hätte tun können. Sie hat erfahren, wo meine...", er suchte einen Moment nach den richtigen Worten. „Schwachstellen liegen. Was mir am allermeisten weh tut.
    Als sie mir gesagt haben, wo sie mich hinbringen, bin ich fast durchgedreht. Ich wollte verhindern in dieses Krankenhaus zu kommen, um jeden Preis. Aber was hätte ich sagen sollen? ‚Tut mir leid, da kann ich nicht hin. Jemand hat sich da eingeschlichen, die eigentlich die Prinzessin der Hölle ist. Achso und wo wir grad dabei sind, ich bin Thronfolger für eure Nachwelt und sie bedroht grade alles was ihr kennt'", er schüttelte den Kopf und stieß ein bitteres Lachen aus. „Und deshalb haben sie mich eben dahin gefahren. Ich wollte Doktor Harrison alles erzählen, aber dann ist sie reingeplatzt, grade als ich anfangen wollte."
    Niki runzelte die Stirn: „Doktor Harrison?"
    Flo nickte: „Ja er ist auch ein Engel."
    „Krass", murmelte Niki, ließ Flo dann aber weitererzählen:
    „Jedenfalls kam sie wie gesagt rein, wir haben uns mal wieder gestritten, weil ich ihr nicht helfen kann, wirklich nicht. Und am Ende hat sie wieder gedroht. Dass ich das alles bereuen werde."
    Obwohl er sich so in Rage geredet hatte, sprach Flo jetzt langsamer, als hätte er Angst davor, den letzten Teil der Geschichte zu erzählen.
    „Ich wollte ihr nicht glauben, aber dann ist sie ein paar Minuten später wieder reingeplatzt. Unsere Familie war schon da. Sie... sie hat gesagt du hättest einen Unfall gehabt." Er war blass geworden, starrte auf seine Hände. Er musste nicht sagen, dass sie es gewesen war, die für Nikis Tod verantwortlich war, vermutlich genauso, wie sie Flos Unfall ausgelöst hatte. Aber er sprach es dennoch aus: „Sie hat dich... umgebracht Niki. Weil ich nicht in der Lage war, ihren Freund zu befreien. Und wenn ich es nicht bald schaffe- es wird immer schlimmer werden", Flos Atem wurde schneller, seine Sätze abgehackter: „Sie weiß genau, wo sie mich treffen muss. Meine Familie, meine Freunde, jeder der mir wirklich wichtig ist. Am Ende die ganze verdammte Erde. Und das schlimmste ist, dass ich es nicht ändern kann. Ich kann nur zugucken."
Er schloss kurz die Augen, sammelte sich:
„Ich hab dich hierhergebracht, obwohl ich das nicht darf. Ich dachte, wenn mein Vater dich sieht, vielleicht ändert sich dann was. Aber...", seine Stimme erstarb.
„Aber?", flüsterte Niki, war sich aber nicht so sicher, ob er die Antwort wirklich hören wollte.
Flo schüttelte den Kopf: „Wir haben uns gestritten, er will ihn nicht freilassen. Unter keinen Umständen. Zur Not will er noch einmal in den Krieg ziehen." Niki starrte ihn mit großen Augen an. Flo warf ihm einen Blick zu, Niki sah Tränen in seinen Augen glänzen: „Ich kann das nicht nochmal Niki. Ich darf nicht mitkämpfen, ich bin der einzige Erbe. Wenn mein Vater im Krieg stirbt, werde ich König, aber wenn ich mitkämpfe und selbst sterbe, hat das Königreich keinen Thronfolger. Das letzte mal war ich ein Kind, aber jetzt... ich kann nicht hier sitzen und nichts tun, wenn da draußen Leute für mich kämpfen." Niki nickte, er fand keine Worte, für das Mitleid, das er empfand. Stattdessen fragte er: „Was hast du jetzt vor?"
Flo schüttelte noch einmal den Kopf: „Ich habe keine Ahnung."

- 15.04.23