39. Kapitel

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Niki starrte seinen Bruder fassungslos an. Oder besser gesagt die schneeweißen Flügel, die aus seinem Rücken ragten. Flo ging mit gemessenen Schritten auf sie zu. Als er Nikis Blick bemerkte, lächelte er ihm traurig zu.
Vor der Statue blieb er stehen, kniete sich hin und senkte für einen Moment den Kopf, bevor er wieder aufstand und zu ihnen kam. Santa neigte den Kopf, als Flo bei ihnen ankam. Der König beobachtete sie schweigend.
    Flo lächelte Niki noch einmal zu, bevor er seinen Blick auf Santa richtete: „Kannst du Niki nach oben in mein Zimmer bringen? Ich brauche mal ein Gespräch unter vier Augen." Santa nickte, obwohl er ihn besorgt musterte: „Natürlich." Auch er lächelte Niki zu: „Komm."
Niki zögerte für einen Moment. Sein Blick huschte von Flo zu dem König und wieder zurück, aber er hielt seine Widerworte zurück und folgte Santa, der auf eine Tür im hinteren Teil des Saales zuging.
    Als sie in dem Treppenhaus standen, dass sich hinter der Tür verbarg, blieb Santa stehen und drehte sich zu Niki um. Sein Blick war immer noch besorgt: „Alles ok bei dir?" Niki schluckte. „Ich- Was macht Flo hier?" Santa zögerte: „Jeder Engel ist per Gesetz dazu verpflichtet ein Menschenleben auf der Erde zu verbringen. Flo lebt gerade seins. Als dein Bruder." Niki starrte ihn an: „Du verarscht mich." Santa lächelte: „Tu ich nicht", er begann die Treppe nach oben zu gehen, Niki schloss schnell zu ihm auf. „Einen Tag nach dem 18. Geburtstag wird jeder Engel auf die Erde geschickt. Und dort lebt er dann ein Menschenleben."
„Aber wie funktioniert das?" Santa zuckte mit den Schultern: „Ehrlich gesagt: Keine Ahnung. So richtig weiß das niemand mehr. Aber wenn man auf die Erde kommt kann sich jeder erinnern, als wäre es schon immer so gewesen. Und... viele erzählen davon selber auch Erinnerungen von diesem Leben zu bekommen. Zwar nur wage, aber sie sind da."
„Also...", sagte Niki und versuchte irgendwie das zu begreifen, was Santa ihm grade erzählt hatte. „war Flo gar nicht mein Bruder? Gab es nur... Dani und mich?" Santa blieb für einen Moment stumm. „Wie gesagt... das ist schwierig zu sagen. Gerade weil Erinnerungen an ein altes Leben da sind."
„Aber...", Niki stockte: „War Flos Gedächtnisverlust dann irgendwie... geplant? Damit wir nicht merken, dass er uns gar nicht kennt?"
Santas Miene verdunkelte sich: „Nein." Niki warf ihm einen Blick zu: „Aber..." „Er erklärt dir das später alles selber", unterbrach ihn Santa. Niki zuckte wegen des harschen Tons zusammen. Santa beschleunigte, bis er ein Stück vor Niki ging und dieser sein Gesicht nicht mehr sehen konnte. Niki starrte ihn an. Eindeutig irgendein wunder Punkt, den er getroffen hatte.
Als Santa schließlich stehen blieb, waren sie bei einer dunklen, aber edlen Holztür angekommen, die er, immer noch stumm, schließlich öffnete und Niki eintreten ließ.
Er stand in einem runden Zimmer, offenbar waren sie in einem der Türme, das schlicht eingerichtet war. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein Himmelbett, an den Wänden ein paar Bücherregale, ein Schreibtisch und ein Sofa. Überall, wo es ging, gab es Fenster, die das Sonnenlicht hereinließen. Auf den Fensterbänken standen reihenweise Fotos. Hinter dem Bett an der Wand hing eine Flagge, mit Sicherheit die des Königreichs, in dem er sich gerade befand.
Niki blieb stehen und drehte sich einmal um sich selbst, bis er auf Santa schaute, der im Türrahmen lehnte und ihn sich alles anschauen ließ. Sein Blick war ruhig, undurchdringlich. „Flo hat gesagt, das hier wäre sein Zimmer." Santa nickte, sagte aber nichts und ließ Niki die Puzzlestücke selbst zusammensetzen. „Aber... wenn das Flos Zimmer ist..., dann..."
„Ja", antwortete Santa und beendete Nikis Satz für ihn: „Flo ist Prinz - und Thronfolger."

Kaum hatte sich die Tür hinter seinem kleinen Bruder geschlossen, verschwand das Lächeln von Flos Gesicht und er schaute zurück zu dem König - seinem echten Vater. Dieser war weiß vor Wut geworden. „Wie. Kannst. Du. Es. Wagen?", stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Flo erwiderte seinen Blick schweigend. Es war ja nicht so, als hätte er nicht damit gerechnet. „Hast du überhaupt eine Ahnung was das für Konsequenzen haben..."
„Ich weiß sehr genau, was ich getan habe", antwortete Flo mit ruhiger, aber fester Stimme. „Und ich hätte Niki nicht hierhergebracht, wenn ich nicht gemusst hätte." „Niemand hat dich gezwungen", gab der König zurück. „Doch", er hatte sich geschworen ruhig zu bleiben. Er wusste, er würde sonst nichts erreichen. Aber es war verdammt schwer nicht lauter zu werden, weil sein Vater offenbar den Ernst der Lage nicht verstand.
    „Alentiya wird keine Ruhe geben, bis wir...", er brach ab, suchte nach Worten und wurde nun doch lauter: „Willst du das ganze nochmal durchmachen?!" Jetzt sprang der König von seinem Thron auf, obwohl seine Stimme, im Gegensatz zu Flos, ganz ruhig blieb: „Wag es ja nicht mir so etwas zu unterstellen."
    „Aber wieso tust du dann nichts?", Flos Stimme brach ab: „Wieso hast du nichts getan, als sie mir meinen ganzen verdammten Erinnerungen genommen hat?!", er versuchte nicht den Schmerz in seiner Stimme zu verbergen und er hätte schwören können, dass so etwas wie Reue in den Augen seines Vaters flackerte, doch in seiner Stimme war nichts davon zu hören, als er erwiderte: „Glaubst du mir ist das leicht gefallen?" Flos Schweigen war Antwort genug. Der König seufzte: „Ich sag dir das jetzt noch ein einziges Mal, vielleicht verstehst du es ja beim dreihundertsten Mal. Wenn wir ihn gehen lassen, werden sie uns früher oder später vernichten."
    „Und ich habe dir schon mal gesagt, dass sie geschworen hat, nichts zu tun." Sein Vater stieß ein bitteres Lachen aus: „Und das glaubst du ihr?" „Was haben wir denn für eine Wahl?", Flo schrie ihn beinahe an. Er musste das irgendwie in den alten, sturen Kopf reinbekommen. „Ich, Niki, das war erst der Anfang. Sie hört nicht auf, bis sie ihn wieder hat. Irgendwann legt sie die ganze Welt in Schutt und Asche. Und danach sind wir dran."
    „Unsere Soldaten sind stark genug", da war keine Emotion mehr in seinem Gesicht. „Wie viele willst du noch opfern?", Flo stiegen Tränen in die Augen.
    „Ich werde sie nicht gewinnen lassen. Niemals", antwortete sein Vater. „Er bleibt hier. Das ist mein letztes Wort. Und das war das letzte Mal das ich das mit dir diskutiert habe." Er drehte sich um, sein Blick auf Statue gerichtet. Flo bebte, vor Anstrengung sich zusammenzureißen.
    Wortlos lief zur Tür, doch dort blieb er noch einmal stehen und drehte sich zu ihm um, auch sein Blick blieb an der Statue hängen: „Ich glaub einfach nicht, dass sie das so gewollt hätte, weißt du", seine Stimme war so leise, das er nicht einmal wusste, ob sein Vater ihn überhaupt hörte. Für einen Moment blieb er noch stehen, starrte verzweifelt auf den Mann, der immer noch keine Reaktion zeigte, dann schüttelte er den Kopf und verließ den Saal.
Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, rutschte er an ihr nach unten und blieb mit angezogenen Knien sitzen, auf die er seinen Kopf legte. Er versuchte nicht einmal die Tränen zu unterdrücken, die ihm übers Gesicht liefen. Er hatte keinen Ausweg mehr. Das hier war seine letzte Chance gewesen.
    Er hatte keine Ahnung was als nächstes passieren würde. Was er tun würde. Er wusste nur, dass er das alles nicht noch einmal durchstehen würde. Er hob den Kopf, fuhr sich verzweifelt mit der Hand durch die Haare. Sein Blick fiel auf die Treppe direkt vor ihm. Nach oben ging es zu seinem Zimmer, dem seines Vaters und den Angestellten. Aber nach unten...
Es war Wahnsinn überhaupt daran zu denken. Sein Vater würde ihn vermutlich nur dafür umbringen, dass er diesen Gedanken hatte, aber... er musste mit ihm sprechen. Er hatte zwar keine Ahnung, was es bringen sollte, aber irgendein Bauchgefühl sagte, er musste mit ihm reden.
    Langsam stand Flo auf und wischte sich die Tränen vom Gesicht. Zuerst musste er mit Niki reden und ihm alles erklären. Danach würde er nach unten gehen und dann würde er nach einer Lösung suchen. Egal was.

    Als sich endlich die Zimmertür öffnete, schien eine Ewigkeit vergangen zu sein. Niki stand am Fenster und starrte hinunter in die Schlossgründe. Als Flo hereinkam und leise die Tür hinter sich schloss, drehte er sich herum.
    Flo sah erschöpft aus. Er tauschte einen Blick mit Santa aus und schüttelte still den Kopf, bevor er sich Niki zuwandte. Santa jedoch sog scharf Luft ein, war mit ein paar schnellen Schritten draußen und ließ die beiden alleine. Einen Moment später knallte etwas draußen.
    Niki zuckte zusammen. Flo schloss kurz die Augen, wie um sich zu beruhigen und zu sammeln, dann schaute er zu Niki: „Alles gut bei dir?"
Niki zog die Augenbrauen hoch: „Meinst du das ernst?" Flo seufzte und schüttelte dann noch einmal den Kopf: „Tut mir leid, ich..." er fuhr sich nervös durch die Haare. Niki sah, wie seine Hand zitterte. „Es ist einfach alles..." „kompliziert?", half Niki weiter. Flo nickte. „Ja, das trifft es wohl ganz gut."
    Er ging zu Niki, warf dabei den Bildern einen sehnsüchtigen Blick zu und stellte sich dann neben ihn. Seine Miene war traurig, als er aus dem Fenster schaute. Niki folgte seinem Blick, der zu seiner Überraschung nicht auf das Dorf gerichtet war, von dem man nur den westlichen Teil sehen konnte, sondern auf den Wald daneben. Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute er Flo an, der seinen Gesichtsausdruck jedoch nicht sah und ging dann zu dem Bett seines Bruders - des Prinzen - um sich darauffallen zu lassen.
    Es dauerte einen Moment, bis Flo sprach, während er immer noch aus dem Fenster starrte: „Wie viel hat dir Santa erzählt?"
Niki zögerte: „Ziemlich viel. Von den drei Nachwelten oder so, was das alles hier ist, wie ich hierhergekommen bin...", er schluckte und fügte leise hinzu: „Und dass ich gar nicht hier sein dürfte, weil mich jemand hierhergeholt hat, der das gar nicht durfte."
Jetzt drehte sich Flo zu ihm um. Er sah unglaublich müde aus. „Und derjenige warst du", sagte Niki, weil er es nochmal von sich selbst hören musste.
Flo schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken, bevor er langsam nickte. Als er die Augen wieder öffnete und Nikis Blick erwiderte, sah er Tränen darin glänzen. Seine Stimme war rau, als er erwiderte: „Es tut mir so leid." Niki schluckte. Er hatte seinen Bruder noch nie so erlebt. Nicht einmal nach dem Unfall, als irgendwie für sie alle eine Welt zusammengebrochen war. Eigentlich war er sauer (hatte er zumindest gedacht), weil Flo sich so einfach in ihr Leben gedrängt hatte, weil er einfach aufgetaucht war und alle geglaubt hatten, er wäre schon immer da. Aber irgendwie konnte er ja doch nichts dafür. Und das sagte er ihm jetzt auch: „Das war doch nicht deine Schuld. Also zumindest, dass ich gestorben bin nicht."
    Flo stieß ein bitteres Lachen aus. Er fuhr sich mit den Händen durch die Haare und schloss noch einmal kurz die Augen. „Doch. Das ist alles ist meine Schuld."
    Niki starrte ihn für einen Moment an, dann legte er den Kopf schief: „Dann erklär es mir wenigstens." Flo drehte sich um, schaute allerdings nicht aus dem Fenster, sondern auf die Bilder, die auf der Fensterbank standen. Eines nahm er in der Hand, sein Daumen strich über den Rahmen. „Das ist eine lange Geschichte, Niki..."
    „Ist ja nicht so, als hätte ich keine Zeit oder?", seine Stimme blieb ruhig, aber er wusste genau, dass Flo den Unterton heraushörte. Er schuldete ihm eine Erklärung.
    Flo seufzte, stellte das Bild wieder hin und drehte sich noch einmal zu ihm um. Sein Blick war verschwommen, als würde er nicht auf die Wand schauen, sondern etwas anderes sehen. Dann begann er zu erzählen.

- 10.04.23

AngelfootWo Geschichten leben. Entdecke jetzt