20. Kapitel

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Einen Tag und 20 Stunden später wusste Flo nicht ob er lachen oder weinen sollte, als er sich mit einer Umarmung von Kai verabschiedete.
Kai war ihm in den letzten zwei Monaten ein unglaublich wichtiger Freund geworden. Als er ihn das erste Mal gesehen hätte, hätte er die vielen Momente, in denen sie zusammen gelacht, sich aufgezogen oder auch füreinander da gewesen waren, nicht erahnen können. Er wusste, dass sie sich, auch mit dem Versprechen regelmäßig zu telefonieren und zu schreiben, vermutlich auseinanderleben würden. Auch wenn sie nicht weit voneinander entfernt lebten, es würde schwierig werden ihre Termine so zu koordinieren, dass sie sich sehen konnten.
Als Kai Flo wieder los ließ, sprach er das aus, was Flo gerade dachte: "Also dann... wir sehen uns spätestens, wenn wir wieder gegeneinander spielen oder?" Flo lächelte traurig: "Na klar. Dann werd ich dir mal so richtig zeigen, was ich drauf hab." Kai lachte. "Natürlich. Ich hab dir ja noch gar nicht richtig gezeigt, wie ich spielen kann." Auch Flo grinste, erwiderte aber nichts darauf.
Stattdessen schaute er über Kais Kopf hinweg die Klinik an, über der gerade die Sonne stand. Er wusste, irgendwie würde er es vermissen hier zu sein. Wenn auch vielleicht nicht die Stunden in denen Alex ihn bis an sein Limit getrieben hatte. Er seufzte. Obwohl, selbst das... Er hasste Veränderungen, das hatte er in den letzten Wochen gemerkt. Am liebsten wollte er, dass alles so blieb wie es war. Aber natürlich war ihm klar, dass das nicht ging. Nur durch Veränderungen konnte das Leben weitergehen und nur dadurch konnte man besser werden. Darauf kam es in seinem Sport schließlich an oder? Immer besser, schneller, weiter.
Kais Lächeln war ernsthafter geworden, als wüsste er, worüber Flo gerade nachdachte. „Wir sehen uns wieder ok? Fußball wird dir unglaublich Spaß machen, glaub mir." Flo nickte und lächelte ebenfalls, konnte allerdings nicht verhindern, dass sich seine Stimme bei dem „Tschau", das er Kai antwortete rau antwortete. Dieser klopfte ihm noch einmal auf die Schulter, drehte sich dann um und lief, die Hände in den Hosentaschen vergraben, zurück auf die Klinik zu. Flo starrte ihm einen Moment hinterher. Er würde ihn wirklich vermissen. Doch dann riss er sich von dem Anblick los und drehte sich zu Dani um, der an sein Auto gelehnt mit seinen Schlüsseln klimperte und ihm entgegengrinste: „Wollen wir?"
Auch Flo musste lächeln. In seinem Bauch machte sich ein Gefühl von Aufregung breit. Der Moment, auf den er die letzten Monate hingearbeitet hatte, war endlich gekommen. Es war soweit. Als ihm endlich diese Erkenntnis gekommen war, verschwand jegliche Angst und machte Freude Platz. Als er in Danis Auto stieg, hatte sich ein Grinsen in seinem Gesicht breit gemacht, dass wohl auch in der nächsten Stunde Fahrt nicht mehr verschwinden würde.

Es war komisch zu wissen, dass Dani seine eigene Wohnung besser kannte, als er selbst, dachte Flo, als er seine Wohnungstür aufschloss. Eben genannter hob gerade Flos Gepäck aus dem Kofferraum und hatte ihn bereits vorausgeschickt. Flo hatte versprochen, gleich zurückzukommen und ihm beim tragen zu helfen. Jetzt gerade jedoch stockte ihm der Atem, als er eintrat. Er wusste nicht, was er erwartet hatte. Die ganze Wand voller Poster und Fußballbilder vielleicht, wie es in seinem alten Kinderzimmer gewesen war. Aber nein, es sah aus wie eine ganz normale Wohnung.
Die Einrichtung gefiel Flo auf Anhieb. Was auch irgendwie Sinn machte, schließlich hatte er hier alles eingerichtet. Die Tür öffnete sich in den Flur, direkt daneben hing ein Kleiderständer, an dem bereits einige Jacken hangen. Flo behielt seine vorerst an, schließlich musste er noch einmal nach draußen und jetzt, Mitte November, war es bereits eisig kalt draußen. Stattdessen trat er ein paar Schritte weiter in die Wohnung. Sein Herz klopfte. Es gab fünf Türen, zwei davon standen offen. Flo öffnete zuerst die links von ihm, die sich schräg gegenüber des Kleiderständers befand. Dahinter befand sich nichts besonderes, nur sein Bad. In der Dusche stand noch eine Shampooflasche, auf den Kopf gedreht, als wäre sie fast leer. Bei dem Gedanken daran, dass er sie wahrscheinlich am Tag seines Unfalls noch in der Hand gehabt hatte, durchflutete ihn ein seltsames Gefühl. Als wäre er gerade von einer langen Reise nach Haus zurückgekehrt. Irgendwie war er das ja auch.
Bei Danis Schritten auf der Treppe zuckte er zusammen und drehte sich schnell um: „Soll ich dir was tragen helfen?", fragte er, denn Dani trug in jeder Hand einen Koffer und wuchtete sie irgendwie die Treppe hoch. Seine Haare klebten schon an der Stirn vor Schweiß. Doch trotzdem schüttelte er nur den Kopf: „Ne, lass mal. Alles gut."
„Man Dani, ich bin nicht mehr todkrank", antwortete Flo und lief ihm entgegen. „Die lachen mich morgen aus, wenn ich nicht mal einen Koffer tragen kann." „Das brauchst du ihnen ja nicht zu erzählen", erwiderte Dani, händigte ihm aber trotzdem den Koffer aus, den Flo ohne Probleme die letzten Stufen hochtrug. Oben angekommen drehte er sich zu Dani um: „Siehst du?" „Ja ja", antwortete dieser nur genervt und nickte mit dem Kopf in Richtung Wohnungstür: „Jetzt mach das du rein kommst." Flo grinste, drehte sich um und zog den Koffer hinter sich her.
Wieder in der Wohnung angekommen schaute er sich ein wenig ratlos um und öffnete dann probehalber eine Tür - hinter der sich die Küche befand. Auch hier blieb er für einen Moment stehen und schaute sich um, beschloss dann aber sich später weiter umzuschauen und zog die Tür wieder hinter sich zu. Dann blickte er sich zu Dani um, der nun in der Haustür stand und schaute ihn fragend an. Dieser zog nur die Augenbrauen hoch und nickte mit dem Kopf zu einer der angelehnten Türen, die Flo vorhin schon aufgefallen war.
Flos Schlafzimmer war dunkel eingerichtet. Dunkle Bettwäsche, graue Tapete, dunkle Holzmöbel, die aussahen, als hätten sie im zweiten Weltkrieg schon existiert. Dani schob sich hinter ihm ins Zimmer: "Ich hab schon immer gesagt, dass das aussieht als wärst du depressiv."
Flo zuckte mit den Schultern: "Ich find's gut." Dani seufzte: "War ja klar, dass du nichtmal jetzt deine Meinung änderst." Flo grinste nur, erwiderte aber nichts. Gemeinsam beschlossen sie, die Koffer zuerst einmal stehen zu lassen (Flo wollte später alleine auspacken, auch wenn Dani sich sträubte) und zuerst einmal die anderen Sachen aufzuladen, um danach im Café die Straße runter etwas zu essen und zu trinken. Flo befand sich noch nicht lange wieder in seiner Wohnung, aber irgendwie hatte er das Gefühl eingeengt zu sein und nicht ganz hier hinein zu passen. Er war gierig nach frischer Luft, darauf, einfach durchatmen zu können, ohne den Stress der letzten Tage.
Dani blieb noch bis spät in den Abend hinein. Er schien zu spüren, dass Flo nicht alleine bleiben wollte, aber irgendwann war auch für ihn Zeit zu gehen, denn er wollte noch zurück nach Bayern fahren und es wurde früh dunkel. Sie umarmten sich zum Abschied. Dani klopfte ihm auf die Schulter: "Du schaffst das. Ich versprechs dir." Flo brachte ein gezwungenes Lächeln hervor: "Danke. Ich hoffe es." "Klar", Dani lächelte, hob noch einmal die Hand, in der seine Autoschlüssel klimperten und stieg ins Auto. Flo blieb in der Haustür stehen, bis er hinter der nächsten Kurve verschwunden war.
Er atmete einmal tief durch und seufzte. Morgen fing sein Leben erst richtig an.
Dann drehte er sich um und schloss alles was ihn die letzten Wochen beschäftigt hatte einfach für einen Abend aus. Morgen war immer noch genug Zeit darüber nachzudenken.
Zumindest sah das in der Theorie so aus. Doch obwohl er es sich auf dem Sofa gemütlich machte, den Fernseher einschaltete und - ausnahmsweise - nichts anschaute was mit Fußball zu tun hatte, schlichen seine Gedanken immer wieder zurück zu dem morgigen Training. Und obwohl Michael Scofield kurz davor war, seinen Bruder vor dem elektrischen Stuhl zu retten, konnte er sich nicht auf die Serie konzentrieren und schaltete den Fernseher um 22:30 Uhr ab. Sein Blick fuhr zu der Uhr, die über seinem Fernseher an der Wand hing und tickte. In der Stille, die sich nun, da die Geräuschkulisse des Fernsehers fehlte, ausbreitete, hörte er jede Sekunde einzeln verstreichen.
In exakt zwölf Stunden würde er auf das Trainingsfeld marschieren. Mit den Mannschaftsärzten hatte er sich eine Stunde früher verabredet. Er hätte auch zur selben Zeit bei ihnen sein können, wie das eigentliche Training begann, aber es war ihm wichtig gewesen, wenigstens zusammen mit der Mannschaft auf dem Platz zu stehen, wenn er schon ein Einzelprogramm absolvieren sollte.
Das einzige Problem, das sich stellte war, wie er zum Borussia Park kommen sollte. Doch auch das hatte sich gelöst. Chris und er hatten, kurz bevor er zurück gekommen war, telefoniert und er hatte sich sofort angeboten Flo zu fahren, als dieser ihm alles erzählt hatte. "Dann geh ich einfach noch irgendwo etwas frühstücken", hatte er auf Flos Einwand, er sei doch dann viel zu früh da, geantwortet.
Gedankenverloren strich Flo mit dem Daumen immer wieder über sein Handgelenk. Sein Blick fiel auf das Tattoo, die zwei Flügel. Er spürte fast wie sein altes Selbst ihn an stupste und versuchte ihm die Nachricht zu verklickern, die es hinterlassen wollte. Er hatte seit dem Tag im Krankenhaus, als er es bemerkt hatte, nicht mehr darüber nachgedacht. Es war einfach zu viel passiert. Doch seitdem hatte er sich selbst immer besser kennengelernt und nun wusste er, dass es stimmte, was er von Anfang an vermutet hatte: Er hätte sich niemals ein Tattoo einfach so stechen lassen. Irgendetwas würde es immer bedeuten. Er schloss die Augen, rieb sich die Schläfen und versuchte das, was er seit seiner endgültigen Diagnose nie mehr probiert hatte. Es gab etwas, das hatte er noch nie jemandem erzählt. Weder seiner Familie, noch den Ärzten, noch Kai, nicht einmal Linda.
Es war, als könnte er die Präsenz der Erinnerungen spüren, tief in ihn drin, unerreichbar. Es fühlte sich an, als würde er nach etwas tauchen, immer und immer wieder und jedesmal, kurz vor dem Ziel, zog ihn etwas, dass über jeglicher seiner Kräfte war, zurück und hielt ihn fest. Doch egal, wie lange und wie oft er es probierte, er schaffte es nicht, an diese Erinnerungen heranzukommen. Wahrscheinlich würde sich das für jeden Arzt sowieso komplett absurd anhören. Vielleicht lag es an dem Trauma von dem Unfall, dass er dieses Gefühl hatte.
Trotzdem war er noch nie zuvor so sicher gewesen, dass es funktionieren würde. Die Stille, nur von dem Ticken der Uhr durchbrochen, nervte ihn nun nicht mehr. Sie half ihm beim konzentrieren. Seine Erinnerungen waren noch nie zuvor so nah gewesen... und trotzdem waren sie zu weit weg. Flo wusste es ab dem Moment, als eine fast wieder da war - und er sie direkt wieder verlor. Er seufzte und öffnete die Augen. Wofür machte er sich überhaupt noch Hoffnungen?
Wütend auf sich selbst schmiss er die Fernbedienung mit etwas mehr Wucht als nötig auf den kleinen Tisch, der vor dem Sofa stand und stand auf. Das Kapitel mit seinen verlorenen Erinnerungen war jetzt abgeschlossen, beschloss er. Ab jetzt würde er sich keine Gedanken mehr darum machen. Nie wieder. Morgen begann sein neues Leben. Da brauchte er nicht seinem alten hinterherzutrauern.

- 20.12.21

AngelfootWo Geschichten leben. Entdecke jetzt