10. Kapitel

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    Am nächsten Morgen schlief Flo aus. Was sollte er auch machen? Er hatte nichts zu tun.
    Trotzdem wachte er bereits um 9 Uhr auf, ausgeschlafener, als er sich jemals zuvor gefühlt hatte. Er hatte nur eine einzige Sache zu tun heute. Und das war die PK angucken. Bei dem Gedanken daran wurde er nervös. Er hatte zwar gestern ganz locker vor Max getan, aber wenn er ehrlich war hatte er ziemliche Angst vor der Reaktion der Öffentlichkeit.
    Er hatte gestern bereits gesehen, dass die Pressekonferenz für 11 Uhr angesetzt war, deshalb stand er zuerst auf, frühstückte und duschte, bevor er um viertel vor 10 nichts mehr zu tun hatte. Noch über eine Stunde! Er stöhnte. Wie sollte er das aushalten? Er versuchte zu lesen oder Fifa zu spielen, aber er konnte sich auf nichts konzentrieren. Und es war noch nicht mal jemand da, der ihn hätte ablenken können. Er war seiner Familie dankbar, dass sie ihn so normal wie möglich behandelten und genauso normal wie möglich ihr eigenes Leben weiterlebten, aber gerade hätte er wirklich jemanden an seiner Seite gebrauchen können.
    Doch es kam niemand. Hätte er ihre Nummer gehabt, hätte Flo jetzt vermutlich Linda angerufen. Er hätte sich immer noch dafür ohrfeigen können, sie nie gefragt zu haben. Aber vermutlich war es besser so. Wer wusste wie es gelaufen wäre, vielleicht wäre er im Endeffekt doch nur ein Patient für sie und sie hätte abgelehnt.
    Da er nicht wusste, was er sonst tun sollte, wanderte er im Haus herum. Er hatte ohnehin noch nicht alles gesehen und seine Neugier siegte immer wieder. Trotzdem vermied er die Schlafzimmer. Er hätte auch nicht gewollt, dass jemand einfach so in seins hereinspazierte und sich umschaute. Als er fertig war und sich selbst den Keller angeschaut hatte, holte er sein Handy aus der Hosentasche und schaute auf die Uhrzeit. Halb elf. Er atmete tief ein und aus. Ohne es zu wollen, begann er, wieder im Wohnzimmer, auf und ab zu laufen. Er hätte nie gedacht, dass auf irgendetwas zu warten ihn so nervös machen könnte.
    Die Uhr schien im Schneckentempo zu ticken, als wäre ihre Batterie leer. Aber nein, die Uhr auf seinem Handy bestätigte sie jedes mal wieder. Jedes Mal wenn er auf die Uhr schaute und dachte es wären 10 Minuten vergangen, waren es höchstens 2. Durch das Fenster sah er jemanden vorbeilaufen, eine junge Frau, mit einer Einkaufstüte in der Hand, die eilig ihren Schlüssel hervorkramte und ihr Auto aufschloss. Schnell setzte Flo sich auf das Sofa. Er wollte nicht, dass sie dachte er wäre Verrückter, weil er wie ein Tiger im Käfig herumrannte.
    Es fühlte sich komisch an, dass für die Menschen da draußen das Leben ganz normal weiterging und er hier kurz vorm durchdrehen war und sich keine 5 Sekunden auf irgendetwas konzentrieren konnte. Ohne es zu merken war er schon wieder aufgesprungen, sobald die Frau außer Sicht war. Er konnte nicht anders, er brauchte irgendetwas um sich abzureagieren.
    Viertel vor 11.
    Sein Herz begann wie wild zu pochen. Er merkte, wie er sich in etwas hineinsteigerte und immer schneller hin und her lief, während er alle 5 Sekunden auf die Uhr schaute.
    Noch 10 Minuten.
    Er zwang sich durchzuatmen und langsamer zu laufen, auch wenn das mehr Anstrengung erforderte, als er jemals für notwendig gehalten hatte.
    Noch 5 Minuten.
    Seine Hände zitterten als er das Handy ein weiteres Mal hervorholte und schonmal vorsorglich den Kanal von Borussia öffnete, auf dem der Livestream übertragen werden sollte.
    4 Minuten.
    So langsam begann die Panik richtig in ihm hochzusteigen.
    3 Minuten.
    Gleich ging es los.
    2 Minuten.
    Wieder befahl er sich selbst tief durchzuatmen und ruhiger zu werden, auch wenn es nicht zu klappen schien.
    1 Minute.
    Plötzlich von allem Bewegungsdrang verlassen, setzte er sich aufs Sofa und starrte auf das kleine Gerät in seinen Händen. Ihm war bewusst, wie schlecht er aussehen musste. Vermutlich war er kalkweiß, hatte Ringe unter den Augen und diese weit aufgerissen.
    11 Uhr.
    Gespannt klickte er auf den Livestream - und stöhnte auf als eine Meldung eingeblendet wurde: ‚Gleich gehts los!' Darunter ein Bild des Borussia Parks und das Logo von einem Sponsor. Er konnte das ganze nicht mehr lange aushalten. Er zitterte immer noch.
    Zu seinem Glück musste er nicht lange warten, auch wenn es sich wie eine Ewigkeit anfühlte. Bereits zwei oder drei Minuten später schaltete die Kamera um und man sah wie Trainer Daniel Farke, Max Eberl und der Leiter der Pk hinter das Pult traten und sich setzten. Flo hatte ein komisches Gefühl im Magen. Er hatte keine Ahnung warum er dem ganzen zugestimmt hatte. Warum hatte er denn nicht erst einmal darüber nachgedacht? Er wusste es nicht. Der Anruf des Managers hatte ihn vermutlich einfach überrumpelt.
    Die Pressekonferenz begann damit, dass der Leiter die Journalisten begrüßte und sofort denjenigen dran nahm, der die erste Frage stellte: „Guten Tag erstmal in die Runde, ich hätte eine Frage an Daniel Farke: Sie haben ja die letzten zwei Spiele verloren, stellt sich da die Frage, ob es vielleicht am System liegt, oder das gewisse Spieler nicht ganz so performen wie sonst und das man diese vielleicht mal aus der Startelf nimmt?"
    Daniel Farke, der während der Frage konzentriert auf seine Hände gestarrt hatte, antwortete: „Ja, natürlich macht man sich da Gedanken, woran es liegen könnte, aber ich denke nicht, dass es am System oder Spielern liegt. Wir haben nicht ganz so konsequent gespielt, wie wir es uns vorgenommen hatten und hatten einige unglückliche Szenen, wie zum Beispiel der Elfmeter oder diverse Pfostentreffer. Ich denke wir müssen einfach unser Spiel durchziehen und dann wird das nächste Spiel auch wieder gewonnen."
    Als er nichts weiteres sagte, wurde der nächste dran genommen und stellte seine Frage: „Guten Tag auch von mir. Wie sieht denn der Kader morgen aus? Sind die Verletzten wieder dabei?"
    Daniel Farke räusperte sich: „Also Lars hat die letzten drei Tage wieder das volle Trainingsprogramm mitgemacht, ich denke er wird spielen können, es reicht bestimmt für eine Halbzeit. Bei Ramy ist ein Einsatz noch nicht so ganz sicher, der wird erstmal noch ein paar Medizinische Tests hinter sich bringen, aber auch er hat gestern schon wieder voll mit trainiert."
    Flo wartete darauf, dass sein Name gesagt wurde - schließlich gehörte er genauso zu den Verletzten, aber Daniel verstummte und so nahm der Leiter den nächsten Interviewer dran, der offenbar dasselbe wie Flo gedacht hatte: „Ich hatte eigentlich eine andere Frage, aber ich denke mal uns alle interessiert es wie es Florian Neuhaus geht, der ja wirklich diese krasse Zeit hatte."
    Einen Moment herrschte Schweigen, dann wandte sich Daniel Farke, auf den immer noch die Kamera gerichtet war, nach rechts und schaute zu Max Eberl: „Ich glaube dazu würde Max gerne etwas sagen."
    Sofort schwenkte die Kamera zu dem Genannten. Flo fühlte sich als würde er sich gleich übergeben, er zitterte immer noch und nun kam auch noch Schwindel dazu.
    Max Eberl nickte, schwieg auch einen Moment und atmete tief durch, bevor er zu sprechen begann. Zum ersten Mal wurde Flo wirklich klar, wie sehr sein Unfall auch den Verein und die Verantwortlichen mitnahm.
    „Ja... Ich habe gestern Abend mit Flo telefoniert. Er ist jetzt aus dem Krankenhaus raus und zu Hause. Morgen gehts dann ab in die Reha, nach Köln, mit ihm. Da die Frage bestimmt auch noch kommen wird: Gesundheitlich ist, körperlich erstmal, alles gut. Nun ist es aber so, dass er, wie die Medien ja auch schon berichtet hatten, sich einen Schädelbruch mit daraus folgendem Schädel-Hirn-Trauma zugezogen hat. Und dadurch hat er...", Max zögerte, Flos Herz hämmerte wie wild. „Sein Gedächtnis verloren", beendete Eberl seinen Satz.
    Die Reaktion darauf ließ einen Moment auf sich warten. Zuerst herrschte betroffenes Schweigen, dann begannen die Reporter wie wild Fragen zu stellen, ohne darauf zu warten, dran genommen zu werden. „Ich bitte um Ruhe!", rief der Leiter der Pressekonferenz, der so einen Auftritt offensichtlich schon erwartet hatte. „Wir werden Fragen klären, aber nacheinander bitte!"
    Langsam kehrte wieder Ruhe ein, bis der nächste Reporter an der Reihe war und natürlich eine weitere Frage zu Flo stellte: „Ich denke mal diese Nachricht hat uns grade alle geschockt. Erst einmal gute Besserung an ihn und natürlich auch viel Glück, aber kann er denn überhaupt in diesem Zustand zurückkehren, beziehungsweise rechnen sie damit?"
    Wieder antwortete Max Eberl, offenbar hatten er und der Trainer sich abgesprochen, dass er die Fragen zu Flo beantwortete: „Flo ist ein Kämpfer und ich weiß, dass er alles dafür tun wird, dass er wieder auf dem Fußballplatz steht. Also ja ich rechne damit, dass er zurückkehrt, das habe ich ihm gestern auch schon am Telefon gesagt."
    „Wie geht er damit um?", lautete die nächste Frage.
    „Soweit ich weiß, hat er mit dem Thema abgeschlossen", erwiderte Max Eberl. „Es war eine schwere Zeit für ihn, aber er hat es geschafft sich wieder aufzuraffen und weiter zu machen."
    „Gibt es wirklich keine Chancen, dass er sein Gedächtnis je wieder zurück erhält?"
    „Ich bin kein Arzt und ich kann auch nur das erzählen, was mir selber zugetragen wurde. Nein, die gibt es nicht, allerdings glaube ich nicht, dass Flo aufgibt, denn das hat er noch nie."
    „Wie geht es der Mannschaft damit?"
    Dieses Mal antwortete Trainer Farke: „Als wir die Nachricht bekommen haben waren wir natürlich alle erst einmal geschockt. Aber, wie Max auch schon gesagt hat, der Flo ist ein Kämpfer, der wird das schaffen." Eberl nickte zustimmend: „Ich würde nur drum bitten, dass sie Flo erst einmal mit Fragen darüber in Ruhe lassen. Natürlich, es werden irgendwann Fragen kommen, das wissen wir alle, aber jetzt soll er sich erstmal voll darauf konzentrieren, wieder fit und gesund zu werden."
    Der Leiter der Pressekonferenz nickte und schaute einmal nach links und rechts, zu jeweils Daniel Farke und Max Eberl. „Ich denke, damit schließen wir auch erstmal die Personalie Flo Neuhaus ab und kehren zu Fragen zum morgigen Spiel zurück." Die beiden nickten zustimmend.
    Flo fühlte sich als wäre ihm ein ganzer Steinlaster vom Herzen gefallen. Max Eberl hatte dafür gesorgt, dass er in Ruhe gelassen werden würde, auch wenn es erst einmal nur für den Moment war. Er glaubte nicht, einem Menschen jemals dankbarer gewesen zu sein.
    Ihm war natürlich klar, dass jetzt ein weiteres Mal hunderte von Artikeln über ihn erscheinen würden, aber wenigstens würde niemand bei ihm anrufen, auftauchen oder sonst irgendwas und versuchen ihn mit Fragen zu bombardieren. Das war besser so. Er wollte sich voll und ganz auf seine Rehabilitation konzentrieren.
    Morgen würde sein Leben endlich wieder richtig anfangen. Die Fahrt würde fast sieben Stunden dauern, hatte Dani ausgerechnet. Da morgen Samstag war, hatte er frei und würde Flo zur Reha fahren, weil dieser zwar einen Führerschein besaß, aber keine Ahnung hatte, wie man Auto fuhr und deshalb wohl ein weiteres Mal durch die Fahrprüfung musste. Zuerst hatten beide überlegt, ob Dani eine Nacht im Hotel in der Nähe verbringen sollte, aber Flo hatte sich dagegen entschieden. Er wusste, durch dieses Kapitel seines Lebens musste er ohne große Hilfe seiner Familie durch.
    Flo legte den Kopf zurück, starrte an die Decke und lächelte, was er vor einer halben Stunde noch für unmöglich gehalten hätte. Er freute sich riesig, endlich wieder loslegen zu können. Und dann konnte er zur Mannschaft zurückkehren und endlich wieder richtig Fußball spielen.
    Hätte er zu diesem Zeitpunkt gewusst, was ihn noch erwartete, wäre er wohl nicht so glücklich gewesen.

AngelfootWo Geschichten leben. Entdecke jetzt