„EEEY", als Flo den Ruf hinter sich hörte, drehte er sich erschrocken um. Kai stand nur ein paar Meter hinter ihm im Tunnel und breitete die Arme aus. Flo grinste, lief zu seinem Kumpel und umarmte ihn. „Mein Gott, hab ich dich lange nicht mehr gesehen", Kais Augen strahlten, voller Vorfreude auf das Spiel, das ihnen bevorstand. Flo strahlte zurück: „Du siehst gut aus." „Du auch", erwiderte Kai. „Gar nicht mehr so...", bevor er ausführen konnte, was Flo nicht mehr war, begannen die Schiedsrichter, gefolgt von den Mannschaften, aufs Spielfeld zu laufen und Jule, den Flo jetzt erst bemerkte, rief seinen Freund mit einem scharfen Pfiff und einem „Kai, komm!", zu sich.
Flo blieb nichts anderes übrig, als Kai abzuklatschen und ihre Unterhaltung auf später zu verschieben. Als er wenig später den Rasen betrat, spürte er Anspannung in sich aufsteigen, wie jedes Mal, wenn er ein Spiel bestritt. Er lächelte dem kleinen Jungen, der heute sein Einlaufkind war, ermutigend zu und zeigte ihm, wie er einmal in alle Richtungen winken sollte, bevor er ihn in Richtung Tribüne verabschiedete, zu denen er mit den anderen Einlaufkindern flitzte. Lächelnd schaute er ihm einen Moment hinterher, bevor er nach links schaute, die Leverkusener erwartend, die an ihnen vorbeilaufen und sie abklatschen würden. Als Kai bei ihm vorbeilief, schenkte er Flo ein diabolisches Grinsen, das gar nichts gutes erwarten ließ. Trotzdem ließ sich Flo nichts anmerken, lächelte in gleicher Manier zurück und blieb, zumindest äußerlich, entspannt. Innerlich stieg wie vor jedem Spiel ein Kribbeln in ihm auf, auch wenn das lange nicht mehr so stark war, wie vor seinem ersten Spiel.
Aber sie hatten einen guten Plan, redete er sich selbst ein, während er zu seinem Platz auf dem Rasen lief und dabei seine Muskeln lockerte, wenn alles klappte würden sie die Leverkusener überrollen und ihnen keine Chance geben auch nur ein Tor zu schießen. An der Mittelfeldlinie standen die Kapitäne und Schiedsrichter beieinander und warfen die Münze, bei der es um die Spielfeldzuteilung und den Anstoß ging. Wenig später trat Lars Stindl einen Schritt zur Seite und winkte seinem Team in einer unmissverständlichen Geste zu. Spielfeldtausch. Flo warf einen Blick in den Himmel. Sinnvoll, dass sie das taten. So stand Yann im Schatten und bekam nicht die Sonne ins Gesicht. Auch wenn das bedeuten würde, dass sie jetzt schon auf die Nordkurve zuspielen würden.
Die nächsten 45 Minuten stellte sich heraus, dass sie sich das auch hätten sparen können. Flos Team hatte zwar einen (nicht gerade schlechten) Plan - aber den besseren hatten die Leverkusener. Kai und Jule hatten sich seit Kai wieder fit war, richtig schön eingespielt und legten eine Torchance nach der anderen füreinander auf. Die Gladbacher Innenverteidigung geriet in massive Probleme, war unkonzentriert und machte leichte Fehler. Flo musste ein paar mal die Zähne zusammenbeißen, um nicht ein paar unschöne Dinge in Richtung seiner Mitspieler zu schreien. Er selbst war mit seiner Leistung relativ zufrieden. Da er Kai so gut kannte, konnte er ein paar Mal voraussehen, was sein Freund tun würde und ihm den Ball abnehmen, bevor es gefährlich wurde. Außerdem entstanden durch ihn die zwei einzigen Torchancen, die Gladbach überhaupt bekam. Trotzdem war es nur Yann Sommer der in der ersten Halbzeit hinter sich greifen musste und das gleich doppelt. Als der Schiedsrichter endlich zur Pause pfiff war Flo mehr als erleichtert.
Chris gesellte sich auf dem Weg in die Katakomben zu ihm: „Man, wir sind mindestens die doppelte Strecke gelaufen." Flo, in dessen Lungen es brannte, nickte nur als Antwort. Daniel Farke war schon in der Kabine verschwunden. Flo hatte seinen Blick gesehen, undurchschaubar wie immer, allerdings eher ruhig und besonnen. Doch Flo wusste, wie sehr Farkes Pokerface täuschen konnte. Würde er wählen können, würde er vermutlich lieber noch 5 Runden um den Platz rennen, als in der Kabine zu verschwinden. Denn diese Pause würde nicht zur Erholung dienen, sondern vermutlich von Taktikvoträgen geprägt sein, in der Hoffnung, in der zweiten Halbzeit doch noch etwas reißen zu können.
Er sollte Recht behalten. Farke sprach in der Umkleide eher selten Namen aus, heute fielen jedoch einige. Trotzdem wusste Flo es zu schätzen, dass er sich mit Kritik in Grenzen hielt und nur Verbesserungsvorschläge gab. Er wusste, dass es den Spielern nichts brachte, auf ihnen herumzuhacken. Sie wussten meistens selber, was sie falsch gemacht hatten oder man würde sich nach dem Spiel zusammensetzen und alles in Ruhe analysieren. Auch Flos Name fiel: „Flo: gut, weiter so. Wir steigen im Strafraum von Raum- zu Manndeckung um. Du übernimmst Havertz. Der ist mir ein bisschen zu gefährlich vorm Tor. Oscar, du nimmst bitte Brandt...", so sprach er weiter, teilte Spieler zu und gab taktische Anweisungen, bis es Zeit war wieder nach draußen zu gehen.
Flo und Chris joggten voraus, um ihre Muskeln wieder aufzuwärmen und unterhielten sich dabei. Sie waren spät dran, die Leverkusener waren bereits auf dem Feld. Flo bemerkte, dass Kai ihn beobachtete und lächelte ihm zu, als sich ihre Blicke begegneten. Er erwiderte mit einem Grinsen und formte die Worte Hab ichs dir nicht gesagt? mit seinem Mund. Flo verdrehte genervt die Augen und schüttelte den Kopf. Kai unterdrückte ein Lachen.
Inzwischen waren alle Spieler dort wo sie hingehörten, auch der Ball lag auf dem Mittelpunkt und der Schiri pfiff das Spiel zur zweiten Halbzeit an. Flo sprintete einen Leverkusener an, der den Ball abspielte und dann fast mit ihm zusammenstieß. Er hob kurz entschuldigend die Hand, konzentrierte sich aber dann wieder auf das Spiel und rief sich die Taktiken in Erinnerung, die Daniel Farke ihnen in der Halbzeit vorgetragen hatte.
Es schien zu wirken. Zwar waren sie nun den Leverkusenern immer noch nicht überlegen, aber wenigstens schafften sie es sich Chancen zu erspielen und das Spiel spielte sich nicht mehr nur in einer Hälfte des Feldes ab. In der 64. Minute schoss Marcus Thuram den Anschlusstreffer, aufgelegt von einer Flanke von Oscar Wendt und Flo wusste, dass sie noch nicht verloren hatten. Mindestens ein Unentschieden war auf jeden Fall drin. Vielleicht sogar ein Sieg.
Irgendwann in den folgenden Minuten holte er sich seine erste gelbe Karte ab, seit er wieder zurück war, weil die Leverkusener nun plötzlich doch wieder aufdrehten. Kai hatte es geschafft an ihm vorbei zu rennen und das einzige, was Flo tun konnte, war ihn zu Fall zu bringen, um ein weiteres Tor zu verhindern. Taktisches Foul, klar, Flo hatte gewusst, dass er dafür eine gelbe kassieren würde. Noch keuchend von seinem Sprint zog er Kai wieder hoch, klopfte ihm einmal auf die Schulter und trabte davon, um seinen Platz in der Mauer einzunehmen. Die Freistoßposition war nicht die beste, aber dafür dass Kai oder Jule schießen würden auch nicht gerade schlecht. Flo wusste, dass sie diese Saison schon den ein oder anderen Freistoß direkt im Tor versenkt hatten. Gerade besprachen sie sich mit gesenkten Köpfen, nickten sich zu und stellten sich auf. In der Mauer gab es ein wenig Gerangel, dann pfiff der Schiedsrichter an und Kai trat den Ball mit voller Wucht und gut platziert über die Köpfe der Spieler. Flo sprang - ohne Hoffnung auf den Ball -, drehte sich noch im Sprung und sah gerade rechtzeitig, dass Yann den Ball mit seinen Fingerspitzen erwischte und über die Latte lenkte. Flo atmete erleichtert aus. Ecke.
Die Spieler blieben im Strafraum, verteilten sich nur ein wenig anders. Flo fiel ein, was Farke in der Halbzeitpause gesagt hatte und schaute sich nach Kai um. Als er ihn gefunden hatte, stellte er sich zu ihm: „Ich bin jetzt dein persönlicher Bewacher." Kai drehte sich erschrocken um, grinste dann aber leicht als er Flo sah und wandte sich wieder der Ecke zu, an der ein Leverkusener, den Flo nicht kannte, gerade den Ball platzierte. „Super, da freu ich mich aber." „Ich ignoriere jetzt mal die Ironie", Flo musste ein Lachen unterdrücken und auch Kai konnte ein Lächeln nicht verhindern, dass jedoch schnell wieder ernst wurde, als der Pfiff des Schiris ertönte.
Es dauerte einen Moment, bis der Ball geflogen kam und in dieser Zeit versuchte Flo sich vor Kai zu drängen, obwohl ihm das nicht richtig gelingen wollte. Als er den Ball endlich sah, erkannte er, dass er so wie er jetzt flog, eine perfekte Vorlage für einen Kopfball war. Auch Kai hatte das erkannt. Flo versuchte ihn abzudrängen - Kai hielt dagegen - und sie beide stiegen gleichzeitig hoch.
Absurderweise schien sich die Zeit in dieser Millisekunde zu verlangsamen. Flo sah, wie vor ihm seine Mitspieler und Gegner hochsprangen und musste dabei kurz an eine La-Ola-Welle denken. Dann sprang auch er ab, ein wenig zu spät, wie er noch im Flug bemerkte. Sein Kopf befand sich tiefer als Kais, der jeden Moment den Ball ins Tor köpfen würde.
Weil Flo so sehr auf den Ball fokussiert war, bemerkte er nicht, dass sich etwas anderes rasend schnell seinem Gesicht näherte. Kai hatte seine Arme nach oben gezogen, um noch mehr Sprungkraft zu haben. Gut für ihn, aber nicht für Flo. Denn so bekam er Kais Ellenbogen mit voller Wucht ins Gesicht. Schon im Flug wurde ihm schwarz vor Augen.
Und dann befand er sich in einer anderen Welt.
In der Welt seiner alten Erinnerungen.- 25.12.22
DU LIEST GERADE
Angelfoot
FanfictionEin junger Prinz, dazu bestimmt seine Jahre auf der Erde zu verbringen. Ein Unfall, der ihm das Gedächtnis raubt. Ein Team für das er alles gibt. Ein außergewöhnlicher Weg zu sich selbst zurück. Ein Leben, das ihn für immer verändern wird. ...