36. Kapitel

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Es dauerte nicht lange, bis der Pfleger, der ihn schon entgegengenommen hatte, wiederkam und ihn in sein Zimmer brachte. Es war nicht das Zimmer, in das er nach seinem Unfall gekommen war, aber es sah ziemlich genauso aus. Flo ließ sich auf das Bett fallen, starrte an die Decke und versuchte nachzudenken.
Er hatte ihr die Wahrheit gesagt. Er hatte alles versucht, auch wenn sie ihm nicht glaubte und er konnte ihn wirklich nicht überzeugen. Eher im Gegenteil; immer wenn er erneut mit „diesem verdammten Thema" anfing, wurde sein Vater wütend, machte zu und dann konnte er sowieso nicht mehr mit ihm reden. Zumal selbst das eigentlich verboten war.
Aber er verstand sie. Hätte er ihr nicht geglaubt, wäre ihre Verzweiflung nicht echt gewesen, hätte er nicht an Aline denken müssen, immer wenn sie von ihrem Freund geredet hatte, er hätte es gar nicht erst versucht. Aber wenn er sich vorstellte, dass sie... allein bei dem Gedanken wurde ihm übel. Er musste sie jetzt sowieso so schnell wie möglich finden. Er kannte die echte Linda (oder Alentiya? Er würde sie Linda nennen. Dann kam sie ihm ein wenig menschlicher vor.) gut genug, um zu wissen, dass sie ihre Drohungen wahr machen konnte und würde. Verzweifelt vergrub er das Gesicht in den Händen. Wie war er nur dermaßen in diese Scheiße hineingeraten? Jetzt war nicht nur die Liebe seines Lebens in Gefahr, sondern wahrscheinlich auch noch seine ganze Familie und, wenn er so darüber nachdachte, wahrscheinlich das Schicksal der ganzen Welt.
    „...Sonst brennt es bald nicht nur in der Hölle."
    Seine Augen brannten. Er wusste nicht mehr weiter. Weder sein Vater, noch Linda würden in irgendeiner Weise nachgeben und dabei Leben aufs Spiel setzen. Und das Schlimmste war, dass er beide verstand. Es war ungerecht, was mit Lindas Freund passiert war, aber gab es nicht genug Gründe dafür? „Ein Leben für ein Leben. Das war die Abmachung.", das hatte sein Vater bei ihrem letzten Treffen zu ihm gesagt. Danach war er verschwunden und seitdem hatten sie nichts mehr voneinander gehört. Wie auch, das Gespräch hatten sie 2 oder 3 Tage vor seinem Unfall geführt. Und ab da war er auf sich allein gestellt gewesen. Zumindest aus dieser Sichtweise.
Stöhnend rieb er sich die Schläfen. Sein Kopf dröhnte immer noch. Und die Gedanken, die ihm durch den Kopf schossen machten es auch nicht gerade besser. In diesem Moment klopfte es. Für einen Moment überlegte er nicht zu antworten. Aber Linda hätte wahrscheinlich sowieso nicht geklopft, wäre sie zurückgekehrt. Vielleicht wollte Doktor Harrison ihn noch einmal sehen. Doch als sich die Tür öffnete, stand dort nicht der Arzt, sondern seine Familie. Genauer gesagt seine Eltern und Dani. Seine Mutter war blass und als sie ihn sah, wurden ihre Schritte schneller und sie umarmte ihn.
Er versuchte seine Gedanken zu verdrängen, nur für diesen einen kleinen Moment, und ihr ein beruhigendes Lächeln zu schenken. „Heyy", seine Stimme klang kratzig. Auch sein Vater beobachtete ihn mit besorgtem Gesicht, hielt sich aber zurück mit Umarmungen als seine Mutter ihn wieder losließ, wofür Flo ihm dankbar war. Stattdessen setzte er sich auf die Bettkante: „Wie gehts dir?"
Wieder versuchte Flo ein Lächeln: „Sieht so aus als hätte ich nur mal einen Schlag auf den Kopf gebraucht." Dani im Hintergrund zog die Augenbrauen hoch: „Wie meinst du?" Flo machte eine Kunstpause, bevor er es ihnen sagte: „Ich weiß wieder alles." Für einen Moment war alles still. Dann schlug seine Mutter die Hände vor den Mund, die Gesichtsfarbe seines Vaters glich sich der Wand hinter ihm an und sein Bruder stieß einen ungläubigen Laut: „Wirklich? Das ist..." Flo nickte, stoppte jedoch sofort wieder und verzog das Gesicht: „Kopfschmerzen hab ich trotzdem." Seine Mutter lachte, ihr waren vor Glück Tränen in die Augen geschossen: „Na wenns mehr nicht ist." Flo musste wider Willen grinsen. „Das sagst du so." Für einen Moment herrschte Stille. Dann fragte Flo: „Wo ist eigentlich Niki?" Sein Vater, ebenfalls mit einem Strahlen im Gesicht, antwortete: „Der hat das Spiel zu Hause mit ein paar Freunden geguckt. Er ist schon auf dem Weg hierher."
Dani ließ sich auf einen Stuhl fallen, der neben dem Bett an einem Tisch stand und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare: „Der wird überglücklich sein, wenn du ihm das erzählst. Und wenn du endlich mal sein Motorrad siehst. Er hat gestern erst davon geredet, dass er es dir unbedingt zeigen will."
    Flo grinste: „Ich weiß. Das hat er mir auch schon... ein paar Mal gesagt."
    In diesem Moment klopfte es ein weiteres Mal an der Tür, leiser dieses Mal. Sofort verschwand Flos Grinsen und es machte sich wieder ein ungutes Gefühl in seinem Magen breit. Sein Vater rief „herein" und weil die Blicke alle Richtung Tür gerichtet waren, konnten sie nicht sehen, dass seine Miene wie versteinert geworden war. Doktor Harrison jedoch, der nun wirklich eintrat, bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte.
    Flo sah für einen Moment so etwas wie Verwirrung in seinen Augen, doch zu Flos Erleichterung sagte er nichts dazu und als sich seine Familie den Arzt begrüßt hatten, hatte auch Flo seine Miene wieder unter Kontrolle. „Guten Tag", erwiderte Doktor Harrison auf die Begrüßung. Er war wieder in seiner Rolle, der ruhige Arzt, dem man nichts anmerken durfte, als er sich an Flos Familie wandte: „Könntet ihr mich kurz mit Flo alleine lassen?" Sein Vater und sein Bruder standen sofort auf, doch seine Mutter blieb sitzen: „Ist irgendwas schlimmes?" Der Doktor lächelte beruhigend und schüttelte den Kopf: „Nein, alles gut. Ich muss nur noch ein bisschen was mit Flo besprechen." „Geht doch kurz in die Cafeteria und holt euch irgendwas zu essen", mischte er sich nun selbst ein. Seine Mutter zögerte und schaute kurz von Arzt zu ihrem Sohn und zurück, nickte dann jedoch: „Dann bis gleich."
    Doktor Harrison wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte und man die Schritte auf dem Gang nicht mehr hören konnte, dann wandte er sich mit ernsten Augen Flo zu: „Was ist los?"
    Flo starrte auf seine Hände. Er wusste nicht was er antworten sollte. Linda war klar gewesen, dass sie nicht wollte, dass irgendwer erfuhr, was sie besprochen hatten. Er wollte ihr nicht bedingungslos ‚gehorchen', aber auch nichts sagen, bis er genug Zeit hatte darüber nachzudenken. Er wusste, dass er seinem Arzt vertrauen konnte. Aber es gab noch eine weitere Person, die Person, der er am meisten vertraute. Und wenn er irgendjemanden davon erzählte, dann als allererstes ihr.
    Als er schließlich doch den Kopf hob, lag immer noch der Blick des Arztes auf ihm. Flo wusste, dass ihm nichts entging: „Das ist... kompliziert." Sein Gegenüber legte den Kopf schräg, in einer stillen Frage. Flo seufzte: „Ich..." aber er wusste nicht, was er noch sagen sollte. Alles, was er an Erklärung hätte liefern können, hätte weitere Erklärungen verlangt. Als Doktor Harrison verstand, dass Flo nichts weiteres mehr sagen würde, senkte dieses Mal er den Kopf und schaute auf seine Hände, die er auf dem Fußende des Bettes abgestützt hatte: „Es tut mir leid, falls ich... irgendwas falsch gemacht habe."
Flo schüttelte sofort den Kopf: „Du hast nichts falsch gemacht." Doktor Harrison hob den Kopf und ließ den Blick aus dem Fenster wandern. „Vielleicht hätte jemand anderes als ich dich direkt heilen können..." „Nein. Glauben sie mir, niemand hätte es besser machen können. Mich hätte sowieso niemand...", er sprach hastig, stolperte fast über seine Worte und begriff zu spät, dass er zu viel gesagt hatte. Er sah, wie der Arzt sich anspannte, aber er bewegte sich keinen Millimeter. Flo atmete tief durch: „Ich... kann dir dazu nichts sagen. Tut mir leid." Doktor Harrisons Augen schlossen sich, aber er nickte, nach einer kurzen Pause: „Wenn du mich brauchst, weißt du ja, wo du mich findest." Flo nickte ebenfalls und räusperte sich: „Das... das hat wirklich nichts mit dir zu tun." Immer noch schaute er ihn nicht an, sondern starrte nur aus dem Fenster. Flo folgte seinem Blick. Man konnte auf den Parkplatz sehen, auf die Straße dahinter, anders als bei seinem anderen Zimmer, das zur anderen Seite des Krankenhauses hin geöffnet gewesen war. Er musste unbedingt daran denken, nachts die Vorhänge zuzuziehen. Obwohl er es liebte bei Mondlicht zu schlafen, war ihm das immer noch lieber, als von irgendeinem Spanner beobachtet zu werden.
Weil Doktor Harrison ihm nicht antwortete, stellte Flo die Frage, die ihm schon die ganze Zeit auf dem Herzen brannte: „War Aline hier? Bei dir?" Jetzt zuckte sein Blick doch zu ihm, überrascht: „Nein, war sie nicht. Ich hatte gedacht, ihr hättet euch noch gar nicht gefunden, ehrlich gesagt." Flo seufzte. „Doch. Sie war bei meinem Training..." „und du hast sie nicht erkannt", beendete der Arzt seinen Satz. Flo nickte.
    Irgendwo draußen war Blaulicht zu hören und es zwitscherten Vögel. Flo konnte draußen ein paar Kinder erkennen, die auf dem Weg nach Hause waren. „Weißt du Flo, ich...", begann Doktor Harrison zu sprechen, wurde jedoch von seinem Handy unterbrochen, dass lautstark zu Klingeln begann. Stirnrunzelnd zog er es heraus, nahm ab und wechselte nur ein paar Worte mit dem Anrufer, bevor er wieder auflegte. Dann lächelte er Flo an: „Tut mir leid, da ist grade ein Notfall reingekommen. Aber mein Angebot steht, wenn du reden willst..." „Ich weiß", Flo versuchte ein Lächeln. Der Arzt nickte ihm zu und verschwand dann im Laufschritt aus der Tür, wobei er diese sperrangelweit offen ließ. Ein paar Sekunden später stand wieder seine Familie um ihn herum.
    Flo bemühte sich sich normal zu verhalten und sich mit ihnen zu unterhalten, doch seine Gedanken flogen immer wieder zurück zu Linda und ihren Drohungen. Er wusste, dass seine Familie ihn gut genug kannte, dass sie wussten, das etwas nicht stimmte, aber er hoffte sie schoben das auf die Gehirnerschütterung. Irgendwann gingen ihnen die Gesprächsthemen aus, aber auch so genoss er es, dass sie bei ihm saßen, obwohl es nicht viel Zeit war.
Denn nur ein paar Minuten später wurde die Tür erneut aufgerissen. Linda stand dort. Sie keuchte, als wäre sie den ganzen Weg zu ihnen gerannt. Ihre Augen waren weit aufgerissen. In den paar Millisekunden, bevor sie zu sprechen begann, flogen ihm einhundert Gedanken durch den Kopf. Als sie jedoch sagte, was los war, war sein Kopf wie leer gefegt: „Es ist Niki! In der Notaufnahme."
Ein schrilles Piepen begann in seinen Ohren zu fiepen. Er sah wie seine Mutter aufsprang, Dani losrannte, bevor Flo überhaupt einen Muskel bewegen konnte und seine Familie aus der Tür war.
Fassungslos starrte er Linda an, jetzt wirkte sie überhaupt nicht mehr so gehetzt wie eben noch.
Was hatte sie getan?
Lindas Blick war Antwort genug.

Ich habe dich gewarnt.

- 22.02.23

AngelfootWo Geschichten leben. Entdecke jetzt