16. Kapitel

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Eine Woche später verlies Flo die Klinik. Er würde einen Tag bei seiner Familie bleiben, die in dann eine Nacht später in die Klinik fahren sollte, bei der er sich eine zweite Meinung einholen würde. Er machte sich keine großen Hoffnungen. Er vertraute Dr. Harrison und daher auch seiner Diagnose. Aber was konnte es schon schaden? Selbst wenn es nur eine kleine Chance auf Heilung gab, er wollte sie nutzen. Von Kai hatte er sich bereits verabschiedet, jetzt stand er ein weiteres Mal draußen und wartete auf Dani. Seine Sachen hatte er größtenteils in der Klinik gelassen, nur einen kleinen Koffer hatte er gepackt, mit Sachen die für drei bis vier Tage reichen würden.
Als er Danis Auto um die Ecke bogen sah, seufzte Flo erleichtert auf. In dieser Hinsicht war Dani wirklich absolut nicht typisch deutsch. Jedesmal war er mindestens zehn Minuten zu spät. Heute war auch Niki mitgekommen, was bedeutete, dass Flo auf der Rückbank Platz nehmen musste.
„Naaa Brüderchen", begrüßte ihn Dani, als er den Kofferraum öffnete, um sein Gepäck einzuladen.
„Hi", antwortete Flo, schloss den Kofferraum mit einem Knall und ließ sich auf die Rückbank sinken.
„Und, wie ist es da?", Niki drehte sich neugierig im Sitz um, um Flo anzuschauen, während Dani schon losfuhr. Flo zog die Augenbrauen hoch und grinste: „Wie oft haben wir jetzt telefoniert seit ich hier bin? Du findest die Klinik ja interessanter als alles andere." „Sogar als das hübsche Mädchen aus seiner Klasse", steuerte Dani bei. Er lachte und auch Flo stieg mit ein. Niki starrte sie erst für einen Moment sprachlos an, dann verschränkte er beleidigt die Arme. Als sie ein paar Minuten später wieder schwiegen, sagte Flo: „Aber mal ernsthaft, was findest du so interessant an einer Rehaklinik?"
Dani grinste: „Er denkt Coman kommt auch bald dahin." „Du hast selber gesagt, das ist nicht unwahrscheinlich"; protestierte Niki, der bis dahin schmollend aus dem Fenster gestarrt hatte. „Ich hab gesagt, es kann sein", korrigierte ihn Dani. „Aber glauben tu ich nicht wirklich daran, dafür ist das viel zu weit weg von München." Er grinste Flo durch den Rückspiegel an: „Aber wenn, dann besorg mir doch bitte ein Autogramm ja?" Wieder drehte sich Niki aufgeregt zu Flo um: „Ooooh, mir bitte auch." Flo konnte sich ein kleines Lachen nicht verkneifen: „Mach ich."

Das Krankenhaus in München, sah aus wie ein typisches, in die Jahre gekommenes... Krankenhaus. Von Doktor Harrison wusste Flo, dass er den Arzt, der ihn hier behandeln würde, bereits über alles was mit Flos Gesundheitsgeschichte zu tun hatte, informiert hatte. Da dieser Arzt ein Spezialist für jegliche Gehirnschädigungen war, hatte Doktor Harrison selbst als noch nicht klar war, dass Flo hier noch einmal durchgecheckt werden sollte, bereits guten Kontakt mit ihm gehabt. Daher kannte besagter Arzt auch Flos Krankenakte in und auswendig.
Flo hatte gesagt bekommen, er sollte im Hauptgebäude den Aufzug in den zweiten Stock fahren und sich dort anmelden, dann würde er erfahren, wo er hingehen sollte. Auf der Fahrt nach oben starrte Flo in den Spiegel an der Wand und zupfte seine Haare ein wenig zurecht. Irgendwie schienen sie nie richtig zu liegen. Aber eigentlich war das ja auch egal. Seit wann interessierte er sich überhaupt so für sein Aussehen? Vermutlich seit Jule da gewesen war, denn der Typ hatte wirklich in allem, was irgendwie spiegelte, sein Aussehen kontrolliert.
Der Aufzug hielt mit einem Ruckeln und die Türen öffneten sich mit einem Zischen, dass Flo irgendwie suspekt vorkam. Er beschloss, nach unten lieber die Treppe zu nehmen. Neugierig schaute er sich auf der Station um. Der Aufzug hatte ihn direkt hinter einem Wartebereich ausgespuckt, in dem um die 20 Stühle in Reihen verteilt standen. Unter seinen Füßen war noch uralter Teppichboden verlegt, in dem man, wie Flo feststellte, jeden Flecken sehen konnte. Er wollte gar nicht wissen, wie einige davon hier rein gekommen waren.
Das Wartezimmer war nur spärlich besetzt, er konnte eine junge Frau mit Kinderwagen, einen Mann, etwa in seinem Alter und eine Mutter mit einem vielleicht 12 oder 13 jährigen Kind entdecken.
Das Infocenter lag genau gegenüber des Aufzugs. Flo umrundete die Stühle und stellte sich vor den Tresen. „Hallo", sagte er zu der Frau, die dahinter saß und gerade irgendetwas in einen Aktenordner abheftete. „Moment", antwortete diese ohne aufzuschauen, klappte den Aktenordner zu und schob ihn zur Seite, bevor sie sich Flo zuwandte. Er lächelte: „Ähm, Florian Neuhaus mein Name, ich hab gleich einen Termin, bei Doktor..." „Antoni, ja ich weiß", Sie zog ein Klemmbrett unter ihrem Tisch hervor. „Füllen Sie das hier bitte aus, danach geben Sie es hier wieder ab und dann werden Sie bald aufgerufen, alles klar?" Er nickte und nahm das Klemmbrett entgegen. „Ok, danke." Sie lächelte kurz, wandte sich dann aber sofort wieder ihren Akten zu.
Flo ließ sich auf den nächstbesten Sitz fallen und blätterte einmal durch die vier oder fünf Blätter, die die Frau ihm gegeben hatte. Medikamente, Vorerkrankungen, Unverträglichkeiten und zwei Seiten Datenschutz und sonstiges, mit dem sich das Krankenhaus für alle Fälle abgesichert hatte. Er seufzte und begann die Bögen auszufüllen, wobei er versuchte, die Blicke des jungen Mannes zu ignorieren, der immer wieder offensichtlich zu ihm herüberstarrte. Einmal, als Flo kurz aufblickte, begegneten sich ihre Blicke, der Mann wurde rot und wandte sich ab, doch nur wenige Minuten später bemerkte Flo aus dem Augenwinkel schon wieder, wie er ihn anschaute.
Als er fertig war, setzte er seine Unterschrift unter alles und  steckte er den Stift zurück in die dafür vorgesehene Halterung. Dann stand er auf und ging erneut zum Tresen, um das Klemmbrett wieder abzugeben. Dieses Mal schaute die Frau schon auf, als sie ihn kommen hörte und nahm ihm alles sofort ab. „Danke", ihr Lächeln wirkte genauso wenig echt, wie das, was sie ihm davor geschenkt hatte.
Er nickte nur unbehaglich, drehte sich wieder um und wollte schon wieder zurück zu seinem Platz gehen, um darauf zu warten aufgerufen zu werden, als sie ihn zurück hielt. „Warten Sie einen Moment, bitte", er drehte sich um und schaute sie fragend an: „Ja?" Sie zögerte einen Moment. Dann sagte sie: „Darf ich ihnen eine Frage stellen, die nichts mit... dem Grund warum sie hier sind zu tun hat?" Flo lächelte ein wenig unsicher: „Klar." „Mein Sohn ist ein riesiger Fan von Ihnen. Könnten Sie mir eventuell eine Unterschrift für ihn mitgeben? Er hat bald Geburtstag und ich sehe ihn sowieso so selten, weil er bei seinem Vater wohnt und da dachte ich, könnte ich ihn doch überraschen, aber natürlich ist es auch vollkommen in Ordnung, wenn Sie nicht wollen, ich meine es ist überall bekannt, dass es Ihnen nach dem Unfall nicht besonders gut ging und ich will Sie jetzt auf keinen Fall zu irgendetwas drängen...", Flo merkte, wie sie vor Aufregung immer mehr redete und drohte, gar nicht mehr damit aufzuhören.
„Klar", unterbrach er sie deshalb. Sie verstummte und schaute ihn an. „Klar kann ich machen", er lächelte, dieses Mal selbstbewusster. „Wenn Sie irgendeinen Zettel und einen Stift hätten?" „Oh... ähm, na klar", sie drehte sich schwungvoll auf ihrem Drehstuhl um, kramte im Schrank hinter ihr und murmelte dabei etwas, dass Flo nicht verstand. Als sie sich wieder umdrehte, überreichte sie ihm einen Klebezettel, auf dem unten irgendeine Werbung für eine Automarke abgedruckt war. Er nahm den Kuli von ihr entgegen und setzte seine, wie er hoffte, ordentliche Unterschrift darauf. Danach gab er ihr beides wieder zurück. Dieses Mal war ihr Lächeln echt, als er sich setzte.

Doktor Antoni war ein etwas in die Jahre gekommener Mann, der auf Flo zwar nicht so offenherzig wie Doktor Harrison vorkam, dem man aber, wenn man ihm eine Zeit lang zuhörte, seine Fachkompetenz deutlich anmerkte. Er begann damit Flo mit den unerwartetsten Fragen zu löchern - die erste davon war, ob er ein Haustier besaß. Als Flo fragte, was das mit der Diagnose zu tun hatte, antwortete er gar nicht, sondern kritzelte nur irgendetwas auf den Block, der auf seinem Schreibtisch lag. Danach schickte er ihn zu einigen Tests, die Flo einen Nachmittag kosteten, bevor ihn eine Krankenschwester auf sein Zimmer führte.
Es war ein Zweibettzimmer, allerdings war das Bett neben Flo nicht belegt, sodass er mal wieder alleine war. Als er seine Sachen abstellte, die er den ganzen Tag mit sich hatte herumtragen müssen, und sich umschaute, bekam er beinahe ein Dejavu. Auch dieses Zimmer, wie irgendwie alles im Krankenhaus (bis auf die Technik, die wirklich nur aus dem neusten vom neusten bestand), alt und irgendwie abgenutzt aussah, hatte es doch unverkennbare Ähnlichkeit mit seinem alten Stationszimmer im Krankenhaus in Mönchengladbach. Seine Gedanken flogen zu Linda. Was sie wohl gerade tat? Irgendwie hatte er die letzten Wochen nicht so oft an sie gedacht, wie er erwartet hatte, und wenn, dann nur zwischendurch und wahllos, mal während dem Essen, dann während dem Training oder abends kurz vorm einschlafen. Er hatte keine Ahnung was das zu bedeuten hatte, er wusste nur, dass er sie unglaublich gerne mal wieder sehen würde. Es würde noch ein bisschen dauern, bis er zum ersten Mal nach Mönchengladbach zum checkup musste, denn Doktor Antoni würde seine Werte - sofern alles in Ordnung war und nicht wider erwarten eine Lösung für sein Problem gefunden werden würde, einfach nur weiterleiten. Doktor Harrison konnte sie dann mit seinen vorherigen vergleichen.
Mal abgesehen davon war ja auch gar nicht gesagt, dass Linda überhaupt da sein würde. Immerhin arbeitete sie Schichtdienst und wenn sie nunmal gerade in der Woche in der er da war Nachtdienst hatte, würde er sie gar nicht sehen.
Er seufzte. Sein Leben schien so außer Kontrolle geraten zu sein. Vor einem halben Jahr war er glücklich gewesen, hatte seinen Traum gelebt und alles hätte nicht besser laufen können. Was ein paar Sekunden alles verändern konnten... eigentlich sollte er glücklich sein überhaupt wieder anfangen zu können Fußball zu spielen. Aber was bedeutete das schon, wenn er sich nicht an sein altes Leben erinnern konnte? Das war etwas, dass er vorher nicht begriffen hatte: Fußball war nicht alles und definitiv auch nicht das Wichtigste im Leben. Er hoffte, er würde das nie vergessen. Und damit drehte er sich auf die Seite und war innerhalb von ein paar Sekunden eingeschlafen.

Die nächsten Tage verliefen alle gleich: Aufwachen, essen, Untersuchungen, essen, Pause, Gespräche mit dem Arzt (der übrigens jeden Satz mit „Also..." begann), nochmal essen, Fernsehen gucken oder sich irgendwie anders beschäftigen, schlafen gehen. Am Ende wusste Flo auch ohne das allerletzte Gespräch, dass er sich das alles hätte sparen können. Wieder einmal hieß es: Ursache unbekannt, leider unheilbar, alles versucht. Zweifellos war Doktor Antoni ein sehr guter Arzt. Das merkte man ihm in jedem einzelnen Satz an. Es gab Menschen, bei denen merkte man, selbst wenn sie von etwas völlig irrelevanten sprachen, wie dem Tierpark gegenüber der Klinik, dass sie Ahnung und wirklich Spaß an ihrem Fach hatten. Das war hier genau so der Fall. Flo verstand zwar die Hälfte der Sätze nicht, weil der Arzt mit Fachbegriffen um sich warf, doch das Ergebnis war das gleiche. Und so reiste Flo, nachdem er noch ein gesamtes Checkup machen ließ (was für seine Fußballkarriere sehr sinnvoll war und das ebenfalls nochmal bestätigte, dass er langsam wieder fit wurde) wieder zurück nach Köln in die Reha. Seine Familie hatte er auf dem laufenden gehalten und auch mit Kai hatte er regelmäßigen Kontakt gehabt. Deshalb erwartete er nichts besonderes, als er zurückkehrte. Und trotzdem wartete in der Klinik eine Überraschung auf ihn...

Huhu, ich meld mich auch mal wieder zurück. Hatte irgendwie geplant dass das Kapitel länger wird, aber was soll's, sp bin ich auch ganz zufrieden. Ich versuch jetzt btw mal wieder regelmäßiger zu schreiben. Gerade sind bei uns Herbstferien, das passt es ganz gut :)
- 17.10.21

AngelfootWo Geschichten leben. Entdecke jetzt