Ein paar Tage später befand sich Flo wieder in seinem Alltag. Immer noch musste er lächeln, wenn er daran dachte, dass das tatsächlich wieder sein Alltag war. Trainieren, Fans treffen, Fußball spielen.
Langsam wurde es wieder wärmer. Ab und zu sank das Thermometer zwar immer noch unter 0, aber die sonnigen Tage wurden mehr und Flo genoss die Stunden auf dem Platz deshalb umso mehr. Trotzdem wurde das Training auch für ihn immer intensiver. Da er jetzt wieder voll im Teamtraining dabei war, nahm niemand mehr auf ihn Rücksicht und, obwohl er das so wollte, fiel er jeden Abend früh ins Bett.
Mittwochs, als vor den Fans eine öffentliche Einheit anstand, ließ der Trainer sie wirklich an ihr Limit gehen. Als er die Einheit endlich für beendet erklärte, war Flo durchgeschwitzt und das einzige was er wollte, war zu duschen und dann nach Hause zu fahren. Doch davor musste er noch ein paar Fans glücklich machen. Gemeinsam mit Chris lief er zuerst zu den Bänken, um seine Jacke zu holen und dann im gemütlichen Tempo zum Ausgang. Währenddessen unterhielten sie sich über die Ergebnisse der Premierleague diese Woche, aber als sie bei den Fans ankamen, blieb nicht mehr viel Zeit für Gespräche. Mittlerweile war Flo lockerer geworden, wechselte oft ein paar Sätze mit ihnen, war aber immer froh wenn er diesen Teil vorbei hatte. Natürlich gehörte es dazu, wenn man ein Bundesligaspieler war, trotzdem spielte er für den Sport und nicht für die Fans, so hart sich das auch anhörte. Trotzdem würde er nicht darauf verzichten wollen. Es war ein zu gutes Gefühl letzte Woche im Stadion gewesen.
Seine Augen wanderten über die Reihe der Menschen, die sich hinter dem hüfthohen Zaun versammelt hatten. Gott sei Dank waren es nicht so viele. Heute sprach er nicht viel, lächelte für die Fotos, unterschrieb auf Autogrammkarten, aber in Gedanken war er schon zu Hause in seinem Bett und zog sich eine weitere Folge Prison Break rein. Er bemerkte nicht, dass er schon an fast allen vorbei war, als er als vorletztes vor einem blonden Mädchen stehen blieb. Sie schien schüchtern zu sein und wich seinem Blick aus. „Hallo", er lächelte ihr trotzdem zu. „Hi", murmelte sie kaum hörbar in ihren Schal hinein und hielt ihm einfach nur einen kleinen Zettel mit Stift hin.
Er warf ihr einen Blick zu, während er die Sachen entgegennahm und seine Unterschrift auf das Papier setzte. Irgendetwas stimmte nicht. Normalerweise waren die Fans immer aufgeregt, schüchtern waren einige und wollten nicht reden, aber sie hatten immer ein Strahlen im Gesicht. Das Mädchen vor ihm sah allerdings aus, als wäre sie kurz davor in Tränen auszubrechen. Sie war blass und in ihren Augen schimmerte es verdächtig. Außerdem bemerkte er, wie ihre Hände zitterten, als sie den Zettel entgegennahm, den er ihr zurück gab. Er zögerte: „Hey... ist alles ok?" Erschrocken schaute sie ihn an und ihre Blicke trafen sich.
Flo konnte nicht sagen, was passierte, aber als sie ihn so anschaute, veränderte sich etwas. ‚Ich kenne sie', war sein erster Gedanke. ‚Aber woher?' Sein zweiter. Der Blickkontakt dauerte nur einen kurzen Moment, aber für diese kurze Zeit schien sich die Zeit zu verlangsamen. Flo sah, wie sich ihre Augen weiteten. Etwas darin war vertraut, wie etwas, dass er als Kind erlebt hatte, ohne sich daran erinnern zu können. Dann schlug sie ihre Augen nieder und zog ihm den Zettel aus der Hand. „Ja, ich... danke", er konnte nicht einmal zu einer Antwort ansetzen, da war sie schon umgedreht und weggegangen. Für einen Moment starrte er ihr hinterher, aber dann stand der nächste Fan vor ihm und er verdrängte das Mädchen aus seinen Gedanken.
Nur dass das nicht funktionierte. Obwohl er so fertig war vom Training, wälzte er sich am Abend in seinem Bett hin und her. Er wusste, dass er sie kannte. Aber woher? Es wollte ihm nicht einfallen. Er ging alles durch, woran er sich erinnern konnte. Die Klinik, die Reha, die Zeit seit er wieder in Gladbach war, aber da war nichts. Erst spät nach Mitternacht fiel er in einen tiefen Schlaf.Am nächsten Morgen wurde er nicht von seinem Wecker geweckt, sondern von einem Anruf. Es dauerte einen Moment, bis er wach wurde und soweit geschaltet hatte, dass er das Gespräch annahm. „Mo...morgen", er unterdrückte ein Gähnen. Am anderen Ende der Leitung ertönte ein Lachen: „Verdammter Langschläfer." „Eyy", beschwerte er sich. „Es ist erst...", er nahm sein Handy kurz vom Ohr. „8 Uhr. Ich brauch meinen Schönheitsschlaf." „Dann werd mal ganz schnell wach Dornröschen", antwortete Linda. „Ich hab heute frei und bin in der Stadt. Wann hast du Training, kann man da zugucken?" „Heute nicht", erwiderte Flo. „Aber die Einheit startet erst um 15:30. Wir können uns vorher treffen, wenn du willst." „Passt perfekt. Wann kann ich zu dir kommen?" Flo grinste: „Also erstmaaal; schlaf ich noch ne Runde." Sie lachte: „Da will man sich einmal mit dir treffen..." Flo drehte sich auf den Rücken und starrte in das stockdunkle Zimmer vor ihm: „Na gut, aber nur weil du's bist. Ich brauch 'ne halbe Stunde." Er konnte ihr Grinsen fast vor sich sehen, als sie antwortete „bin in 20 Minuten bei dir", und auflegte, bevor er protestieren konnte.
Als es klingelte stand Flo gerade mit der Zahnbürste im Mund im Bad und versuchte sich gleichzeitig die Zähne zu putzen und seine Haare irgendwie in Form zu bringen. Mit einem Blick in den Spiegel stellte er fest, dass das nichts brachte, stieß ein unzufriedenes Brummen aus und lief zur Tür, um Linda nicht noch länger warten zu lassen. „'lo", begrüßte er sie. Sie grinste und musterte ihn einmal von oben bis unten. „Morgen", erwiderte sie und zog sich dabei ihre Jacke aus. „Bin gleich bei dir", nuschelte Flo und zeigte mit der Hand auf die Tür zum Wohnzimmer. Er erkannte genau, dass sie ihr Lachen unterdrücken musste, aber sie nickte nur und verschwand durch die Tür. Flo lief ins Bad, spülte seinen Mund aus und warf noch einmal einen Blick in den Spiegel. Als er seinem Spiegelbild in die Augen sah, musste er unwillkürlich an das Mädchen von gestern denken. Eine Gänsehaut lief ihm über den Rücken. Irgendetwas... egal. Schnell wandte er den Blick ab und verließ das Bad.
Er und Linda verbrachten den ganzen Vormittag zusammen. Sie sprachen fast nur über belangloses, sie erzählte ihm den neusten Tratsch aus der Klinik, er ihr über das Training, die Mannschaft und das ganze drumherum. Das wage Gefühl, das er noch vor ein paar Tagen gehabt hatte, dass sie ihm aus dem Weg gehen wollte, war verschwunden; sie war ganz einfach wieder seine beste Freundin Linda. Mittags gingen sie in einer nahegelegenen Pizzeria etwas essen. Flo war überrascht, wie viel sie sich zu erzählen hatten. Als hätten sie sich Ewigkeiten nicht mehr gesehen und nicht nur ein paar Wochen. Irgendwann begann er vom Training zu berichten und erzählte ihr nach kurzem Zögern auch von dem seltsamen Mädchen, das ihm, warum auch immer, nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. Sie war eine seiner besten Freunde, er hatte noch nie gezögert ihr etwas zu erzählen, doch dieses Mal fühlte es sich irgendwie falsch an. Als hätte er irgendeine Grenze überschritten und etwas damit angerichtet, dass sich nicht mehr rückgängig machen ließ. Er versuchte dieses Gefühl zu ignorieren, es von sich wegzuschieben. Was hatte er schon zu befürchten? Später wünschte er sich, er hätte öfter auf sein Bauchgefühl gehört. Viel öfter. Doch an diesem Nachmittag war noch alles in Ordnung. Er hatte keine Ahnung von dem, was ihm noch bevorstand.
„Hmmm", meinte Linda, als er fertig war und ihr alles anvertraut hatte. „Und du bist dir sicher, dass du sie nicht schonmal auf der Straße oder so gesehen hast?", Nachdenklich betrachtete sie einen Kellner, der sich durch die Leute schlängelte. „Ganz sicher", antwortete Flo. „Dann hätte ich mich an sie erinnert. Ich glaube sie wär mir vorher schon aufgefallen." Er spürte, wie er rot wurde. Linda ließ den Kellner kurz aus den Augen und warf ihm ein vielsagendes Lächeln zu: „Ach so ist das." Flo musste wider Willen ebenfalls lächeln: „Nee, so meinte ich das nicht. Das war... ein ganz komisches Gefühl. So... Deja vu mäßig, weißt du?" Aus der Klapptür kam erneut ein Kellner und wie eine Katze, die ihre Beute beobachtete, verfolgte Lindas Blick ihn erneut. „Ja, ich weiß was du meinst...", ihre Stimme wurde leiser und verstummte schließlich. Worüber sie wohl nachdachte? Für einen Moment herrschte Stille zwischen ihnen.
Dann seufzte sie und schaute ihn wieder an, diesmal aus klaren, ernsten Augen: „Pass einfach auf, mit wem du dich abgibst ok? Man kann nicht jedem einfach so vertrauen." Flo runzelte die Stirn: „Du meinst sie ist sowas wie... keine Ahnung kriminell oder so?" Lindas Finger umklammerten die Tasse Tee, die sie sich bestellt hatte. Sie schien die ganze Wärme in sich aufsaugen zu wollen. Flo war schon aufgefallen, dass sie ständig fror. Und das, obwohl es mittlerweile wieder wärmer wurde. „Keine Ahnung", antwortete sie auf seine Frage. „Vielleicht stalking oder so?"
Diesmal war Flo es, der nachdenklich an ihr vorbei aus dem Fenster schaute und eine Weile nicht antwortete. Er war sich ziemlich sicher, dass dieses Mädchen weder kriminell, noch irgendeine Stalkerin war. Dazu war sie erstens viel zu schüchtern gewesen und zweitens viel zu schnell wieder verschwunden. Sie schien regelrecht Angst vor ihm zu haben. Außerdem, wieder war er sich nicht sicher woher das kam, war da ein Gefühl, das ihm sagte, sie wolle nichts böses. Eher das Gegenteil. Aber das wollte er Linda nicht sagen, deshalb brummte er nur als Antwort und nickte leicht.
Sie schien zu spüren, dass sie ihn nicht ganz überzeugt hatte. Er blickte auf, als er plötzlich ihre Hand auf seiner spürte: „Bitte Flo, ich meins ernst. Die Menschen, die am meisten vertrauen, werden am Ende am meisten verletzt." Er schluckte, als er ihr in die Augen sah. „Ich... ok. Wenn sie nochmal auftaucht, dann bleib ich weg von ihr ok?" Sie starrte ihn für einen Moment an, wahrscheinlich um herauszufinden, ob er die Wahrheit sagte, dann nickte sie und ließ seine Hand los. „Gut."
Nach dem Gespräch war die Stimmung gedrückt und es fiel ihnen nicht mehr ganz so leicht wie davor zu reden. Flo beobachtete Linda immer, wenn sie ihn nicht ansah. Vorher war sie fröhlich gewesen und hatte ihn zum lachen gebracht, jetzt stocherte sie lustlos in ihrem Essen herum und antwortete nicht mehr richtig auf seine Fragen. Da war wieder diese Distanz zwischen ihnen. Also hatte Flo sie sich doch nicht eingebildet. Aber warum auf einmal jetzt? Den ganzen Tag war doch alles normal gewesen. Es wunderte ihn nicht, dass sie, als sie bezahlten, sagte sie müsse gehen und sein Angebot ablehnte, noch einmal mit zu ihm nach Hause zu kommen. Sie verabschiedeten sich mit einer Umarmung, von der Flo hoffte, sie würde nicht die letzte sein. Trotzdem, das Gefühl, dass sich etwas gravierendes zwischen ihnen verändert hatte, blieb.- 10.12.22
DU LIEST GERADE
Angelfoot
FanfictionEin junger Prinz, dazu bestimmt seine Jahre auf der Erde zu verbringen. Ein Unfall, der ihm das Gedächtnis raubt. Ein Team für das er alles gibt. Ein außergewöhnlicher Weg zu sich selbst zurück. Ein Leben, das ihn für immer verändern wird. ...