19. Kapitel

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Seit dem Besuch beim Arzt waren mittlerweile vier Tage vergangen. Meine Mutter war jeden Tag da, brachte mir was zu essen und war dann immer noch ein bisschen geblieben. Die ersten drei Tage hatten wir kaum gesprochen und ich hab mich den ganzen Tag im Bett verkrochen, nur zum essen bin ich aufgestanden - meiner Mutter zuliebe. Erst am vierten Tag schaffte es meine Mutter mich aus dem Bett zu holen und mich zu einem kleinen Spaziergang zu überreden. Die frische Luft tat mir gut.

"Du musst mir versprechen regelmäßig zu schreiben und auch etwas raus zu gehen!", sagte meine Mutter besorgt als sie sich verabschiedete. "Ja Mutti ich verspreche es dir!", sagte ich und versuchte zu lächeln. Sie musste für fünf Tage nach München und hatte ein schlechtes gewissen deswegen - eigentlich wollte sie mich in dem Zustand auf keinen Fall alleine lassen, da es aber um Ihren Job ging, hatte sie keine Wahl. "Mutti ich werde wohl fünf Tage alleine überleben, ich bin schon groß!", sagte ich grinsend. Eigentlich ging es mir noch nicht gut, aber ich wollte meiner Mutter das ganze nicht noch schwerer machen. In den letzten Tagen ist sie mir immer zur Seite gestanden und unser Verhältnis hat sich um vieles gebessert. "Na gut, ich muss jetzt los! Melde dich wenn was ist!", sagte sie und umarmte mich, ich merkte wie besorgt sie um mich war.  Ich lächelte Sie an. "Es ist alles gut  Mutti!" Dann stieg sie ins Taxi und fuhr weg. Da ich nun eh schon draußen war, ging ich gleich eine Runde spazieren. Der Tag verlief eigentlich sehr gut und auch am nächsten Morgen ging es mir halbwegs gut. Ich ging am Vormittag gleich mal eine Runde raus und spazierte sogar über 1 ½ Stunden alleine durch Köln. Mittags telefonierte ich noch kurz mit meiner Mutter, doch dann saß ich alleine in meiner Wohnung und wusste nicht mehr was ich tun sollte. Es hatte ziemlich stark zu Regnen begonnen also konnte ich nicht raus und in meiner Wohnung war es so verdammt ruhig.  Ich entschied mich den Radio anzumachen, ich brauchte irgendwas gegen die Stille.
Die Musik half mich abzulenken und an nichts zu denken. Ich hörte einfach nur zu.

Ich lag schon relativ lange auf der Couch und hörte Musik, als ein Lied kam das ich eigentlich gerade nicht hören wollte:

Das Gefühl, wenn wir nachts durch die Straßen zieh'n
 Uns nach Ewigkeiten mal wieder seh'n
 Wenn der ganze Stress sich in Luft auflöst
 Und Euphorie durch die Adern strömt

 Fast so als wäre gar keine Zeit vergangen
 In dieser Sekunde fühlt sich's wie früher an

Schnell schaltete ich das Radio aus, doch eigentlich war es schon zu spät, denn die ersten Tränen liefen mir über die Wange und mein Kopf fing an über die Vergangenheit nachzudenken.

Ich dachte an meinen 15. Geburtstag, wie ich anfing Winc von mir wegzustoßen. Bis zu diesem Tag hatten wir über alles geredet und gefühlt jeden Tag gemeinsam verbracht, aber als ich erfahren habe das sich meine Eltern scheiden lassen und ich mit meinem Vater nach Rosenheim gehen soll, brach für mich die Welt zusammen. Ich würde damit über neun Stunden von meinen Freunden entfernt leben und bevor ich an der Entfernung zerbrach, sorgte ich dafür das ich nichts zu vermissen hatte. Ich ließ keinen mehr an mich ran und wenn sie versuchten mir zu helfen hab ich erst richtig losgelegt. Ich hab Wincent viel an den Kopf geworfen mit dem er zu kämpfen hatte, ich kannte seine Schwächen und hab die verwendet - so wie ich das vor fast zwei Wochen wieder getan hab indem ich seinen Vater erwähnt hatte. Ich wusste das es für ihn ein schwieriges Thema war und auch wenn er so tat als wäre es ihm  mittlerweile egal, sein Song hat gezeigt das es nicht so war.

Das erste Mal verstand ich wirklich was er bei unserem letzten Telefonat meinte und war von mir selber entsetzt. Er hatte mir nochmal eine Chance gegeben und ich hab diese Chance mit Füßen getreten - ich konnte mir nicht vorstellen, das er mir nochmal eine Chance geben würde.
Die Erkenntnis tat sehr weh und die Tränen wurden immer mehr. Es war eine Mischung aus Wut, Trauer und Selbsthass die mich immer noch mehr verzweifeln ließ. Was war nur aus mir geworden?

Irgendwann war ich so fertig, das mir die Augen zufielen und ich auf der Couch einschlief.

Als ich am  nächsten Morgen aufwachte, war mein erster Gedanke: "Ich muss hier weg, alles hinter mich lassen und irgendwo neu anfangen!" Doch dann wurde mir bewusst das ich das nicht konnte. Das erste Mal seit sieben Jahren konnte ich nicht einfach in ein Flugzeug steigen und mich irgendwo am anderen Ende der Welt vor meinen Problemen und Gefühlen verstecken. Ich war hier gefangen, alleine in meiner Wohnung.

Der Gedanke allein zu sein, bewegte mich dazu mich wieder in mein Bett zu verkriechen und einfach alles um mich herum auszublenden. Ich wollte an nichts mehr denken, doch das ging nicht. Stattdessen dachte ich nur mehr an meine Vergangenheit und was alles schief gelaufen war.  Nichts lenkte mich ab, bis ich Irgendwann wieder einschlief.

Ich wusste nicht wie lange ich geschlafen hatte, als ich durch starke Unterleibsschmerzen aus meinem Schlaf gerissen wurde. Es fühlte sich an als würde sich der ganze Unterleib zusammenziehen.
Ich versuchte ruhig zu atmen, doch ich stand kurz vor einer Panikattacke – was passiert hier?
Erst ein paar Augenblicke später fing ich an zu realisieren was vermutlich gerade vor sich ging – ich war gerade dabei mein Kind zu verlieren. Der Arzt hatte gesagt das es sehr schmerzhaft sein wird, doch es war schlimmer als ich gedacht hatte. Ich versuchte weiter ruhig zu atmen. Der Schmerz wurde immer wieder heftiger, hielt kurz an und wurde dann wieder schwächer. Nach und nach wurden die Pausen zwischen den Schüben kürzer, bis der Schmerz gar nichtmehr schwächer wurde. Ich schrie und verfluchte mich selber – warum war ich nicht im Krankenhaus geblieben.
Nach ca. 3h lies der Schmerz abrupt nach und auch die starke Blutung war vorbei. Ich blieb noch eine Weile am Badezimmer Boden sitzen, bis ich mich wieder stark genug fühlte um aufzustehen und mich ins Bett zu legen. Körperlich ging es mir gut, die schmerzen waren weg und die Blutung hatte aufgehört, doch ich fühlte mich verlassen und leer. Es war ein eigenartig beklemmendes Gefühl und irgendwie war ich auch gar nicht mehr ganz anwesend. Ich hatte mein Kind verloren und ich konnte nicht mal weinen, vielleicht waren aber auch einfach keine Tränen mehr übrig.

Ein lautes und wildes Klingeln riss mich aus meinem Schlaf – ich hatte nicht mal gemerkt das ich eingeschlafen war, doch da die Sonne in meine Wohnung schien, dürfte ich relativ lange geschlafen haben. Verwirrt stand ich auf und ging zur Tür. Um so länger ich brauchte, um so öfter wurde auf die Klingel gedrückt, mein Kopf brummte davon. “Ich komm ja schon!”, schrie ich noch total neben der Spur. Ich machte die Tür auf und knallte Sie vor lauter Schreck wieder zu.

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