Tante Millie meint immer, man soll die Lasten des alten Jahres nicht in das neue Jahr mit hinüberschleppen. Einen geraden Cut ziehen, damit man voll Energie in den Januar starten kann.
Ich rede mir ein, dass das der Grund ist, warum ich East nach zehneinhalb Tagen Funkstille angerufen habe. Er war zwar mindestens genauso überrascht wie ich, aber nachdem ich ihm vorgeschlagen habe, heute spazieren zu gehen, war er sofort dabei.
Weil ihr doch nicht ohneeinander könnt.
Und komischerweise war alles wie immer. Keine bedrückte Stimmung. Ich durfte mir zwar anhören, wie scheiße ich aussehe und ob ich gestern Abend zu tief ins Glas geguckt habe, aber darüber war ich ehrlich gesagt ziemlich froh. East ist der Alte.
Wir sind erst knapp eine viertel Stunde unterwegs und trotzdem haben wir uns ungefähr alles erzählt, was in den letzten Tagen Spannendes passiert ist. Gemeinsam lassen wir das letzte Jahr in Revue passieren. Vor allem in diesen Momenten fällt einem wieder auf, wie viel doch innerhalb eines Jahres geschehen kann.
Unbewusst schlagen wir die Richtung zum Strand ein, der zu dieser Jahreszeit wie leergefegt ist. Früher war ich beinahe jeden Tag am Meer und habe mich im Rauschen der Wellen beruhigt. Seit ich wieder Zuhause bin, war ich ganz genau einmal dort unten.
Der Wind wird stärker, als wir den weichen Sand betreten und auf die Wellen zusteuern. Ich habe meine Hände tief in den Jackentaschen vergraben und East flucht leise, als im Sand ins Gesicht geweht wird.
Allzulange werden wir sowieso nicht hierbleiben. Es dämmert bereits und in ein paar Stunden holen wir Judy und Valery ab, um dann gemeinsam zum Haus von O'Malley zu fahren, wo die Party stattfinden wird. Mein bester Freund äußerte zwar vorher schon Bedenken, ob das der richtige Ort für Judy sein würde, darauf ging ich aber gar nicht ein.
Vermutlich ist es besser, wenn wir das Thema Judy einfach gar nicht ansprechen, da ich keine Lust auf eine zweite Funkstille habe.
Schließlich bleiben wir stehen und betrachten andächtig das Meer. Im Sommer versammelt sich die ganze Stadt hier am Strand, jetzt im Winter ist es dafür viel zu kalt. Der Wind peitscht uns ins Gesicht und wirbelt immer wieder kleine Sandkörner auf. Der Ozean spuckt in regelmäßigen Wellen aus. Ich betrachte die weiße Gischt, die langsam im Sand unter sich versickert.
Mein bester Freund starrt verträumt hinaus in die Ferne und seufzt dann.
„Vor einem Jahr um die Zeit stand ich genau an dieser Stelle und konnte von all dem hier nur träumen." Ich sehe ihn von der Seite an. East lächelt selig vor sich hin und wirft dann auch mir einen Seitenblick zu. Ich schlucke schwer. Vor einem Jahr um diese Zeit lag ich noch im Krankenhaus im Koma. Jetzt stehe ich hier. Mit meinem besten Freund, einem unglaublichen Mädchen an der Seite und freue mich auf die Silvesterparty heute Abend.
„Wünsche um Mitternacht funktionieren wohl wirklich", brummt mein bester Freund dann. Ich lupfe eine Augenbraue und sehe, wie East im gleichen Moment feuerrot wird im Gesicht.
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Kämpferherzen
General Fiction"Ich kann dir nicht versprechen, dass ich all deine Probleme lösen kann. Aber ich kann dir versprechen, dass du nicht alleine kämpfen musst." ___ Ich glaube nicht an Schicksal. Ich glaube nicht daran, dass unser Leben vorprogrammiert wird, sobald wi...