ZWEI - Vince

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Ich blättere die Seite meines Buches um und atme langsam aus

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Ich blättere die Seite meines Buches um und atme langsam aus. Mit der rechten Hand taste ich nach meinem Handy, um die Lautstärke der Musik etwas zu erhöhen. Die Sonne scheint durch das leicht gekippte Fenster. Durch den kleinen Spalt höre ich die fröhlichen Stimmen der Kinder, die auf dem Spielplatz draußen spielen. Trotz meiner guten und teuren Kopfhörer dringt das laute Gekreische zu mir durch. Ich seufze und versuche mich auf die Zeilen vor mir zu konzentrieren. Mit den Füßen strample ich die warme Decke zum Ende des Bettes und strecke meine Beine aus.

Ich merke, wie ich mit meinen Gedanken immer weiter nach Zuhause, zu meiner Familie, abdriften und klappe letztendlich das Buch zu. Von den knapp siebenhundert Seiten habe ich heute gerade Mal zweihundert geschafft. Was eine echt miese Leistung ist, wenn man bedenkt, dass ich den ganzen Tag in meinem Zimmer verbringe. Ohne wirklich gutes Internet, wohlgemerkt. Eigentlich warte ich immer nur darauf, dass entweder meine Eltern, mein bester Kumpel East, oder meine Freundin Hayden vorbeikommen, ich zur Physiotherapie muss, oder eine weitere Untersuchung über mich ergehen lassen muss. Hayden versorgt mich jeden Tag mit neuem Lesestoff und meint, dass ich langsam die ganze Stadtbibliothek durchgelesen hätte.

Ich atme leise aus und erhöhe die Lautstärke der Musik erneut. Die Sonnenstrahlen erwärmen mein Gesicht und ich lasse mich weiter in das weiche Kissen sinken. Das Hellblau, das sich durch die komplette Station durchzieht, ziert auch die Wand von mir gegenüber. Am Anfang fand ich die Farbe ganz okay, aber inzwischen finde ich sie schrecklich. Jeden Morgen wache ich auf, weiß, dass ich einen weiteren Tag hier im Krankenhaus durchstehen muss und starre immer wieder diese Farbe an. Jeden. Verdammten. Tag.

Ich balle meine Hände zu Fäusten, weil ich merke, dass sie schon wieder eiskalt werden. Was immer passiert, wenn ich daran denke. Die Worte meines Physiotherapeuten, Sam, schießen mir durch den Kopf. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Du bist hier in Sicherheit. Wir wollen dir alle helfen. Bald bist du wieder der Alte. Du wirst es schaffen. Du stehst das durch. Wir stehen alle hinter dir.

Meine Fingernägel graben sich in meine Handflächen. Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn, während ich vor mir die aufblitzenden Schweinwerfer sehe. Und dann die Dunkelheit. Nichts als Dunkelheit. Schwärze. Angst. Ich beiße die Zähne fest aufeinander und zwinge mich, an etwas anderes zu denken. An Hay. In die ich mich jeden Tag neu und immer mehr verliebe. Ihre strahlend blauen Augen, die mit jedem Blick auf mich intensiver zu leuchten scheinen. 

An East, der mir mit seinen flachen Witzen auf die Nerven geht und trotzdem eine der wichtigsten Stützen in meinem Leben ist. Und das liegt nicht daran, dass er mir täglich Schokotorte von meinem Lieblingscafé am anderen Ende der Straße mitbringt. Uns verbindet mehr. Diese eine Nacht. Diese eine, verdammte Nacht.

Die Nacht, die mir acht Monate meines Lebens genommen hat. Die East an seinen Schuldgefühlen verzweifeln lässt. Wegen der ich mich durch Untersuchungen, Therapien und Gruppenstunden mit anderen ehemaligen Komapatienten quälen musste Die East in den letzten eineinhalb Jahren so fertig gemacht hat, dass er selbst drei Monate nach dem Vorfall kaum mehr etwas essen konnte, was man deutlich an seiner Statur sieht. Ich hasse es, dass ich in dieser harten Zeit nicht bei ihm sein konnte. Nicht geistig bei ihm sein konnte. Körperlich war ich es. Irgendwie.

KämpferherzenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt