Ich streiche ein letztes Mal meinen Pullover glatt und atme dann langsam aus. Mein Blick haftet an dem Jungen, der mir aus dem Spiegel entgegen starrt. Dunkle Furchen befinden sich unter seinen Augen, die Haut fahl und blass. Der Pullover, der einst sein Lieblingspullover war sitzt nicht mehr so perfekt wie vor zwei Jahren. Ich fahre mir durch die Haare und presse meine Kiefer fest aufeinander.
Ich werde den heutigen Tag schon irgendwie überstehen. So viele Male habe ich ihn mir im Krankenhaus vorgestellt, ich werde mir den Moment, wenn ich das erste Mal wieder durch die großen Eingangstüren gehe, nicht vermiesen lassen.
Gestern Abend habe ich noch eine ganze Zeit mit Hayden telefoniert. Ich habe ihr meine Ängste mitgeteilt, da die Zweifel in mir immer größer werden, je näher meine Rückkehr zur Schule rückt. Immer wieder bin ich in meinem Zimmer auf und abgegangen und habe mir die schlimmsten Szenarien ausgemalt. Szenarien, über die ich mir eigentlich gar keine Gedanken machen sollte. Trotzdem nagt die Angst weiter an mir. Ich schließe schnell die Augen und schüttle langsam den Kopf.
Nein, ich habe zu lange für diesen Tag gekämpft, um jetzt einzuknicken. Ich kann das, ich werde es schaffen.
Ich klaube meinen Rucksack vom Boden auf und verlasse dann mein Zimmer. Als ich die Tür hinter mir zufallen lasse atme ich noch einmal tief durch und laufe dann hinunter in die Küche, wo Mama bestimmt schon Frühstück vorbereitet. Ich versuche probehalber zu lächeln und atme erneut tief durch, als ich dem leckeren Duft nach aufgebrühten Kaffee und frisch aufgebackenem Brot nachgehe.
Mama steht geschäftig über der Arbeitsfläche gebeugt und blättert hektisch in einem Rezeptbuch. Die Haare hat sie sich zu einem unordentlichen Knoten hochgesteckt, um sie herum sieht es so aus, als wäre eine Bombe eingeschlagen. Ich lächle und gebe mir ein paar Sekunden Zeit, um ihr zuzusehen.
Für Mama ist das Frühstück die wichtigste Mahlzeit am Tag. Sie macht es sich zur Aufgabe, ständig etwas neues auszuprobieren und sei es nur eine neue Marmelade. Besonders gern machte sie, zumindest bevor ich ins Koma fiel, verschiedene Obstgelees, die teils mehr, teils weniger funktioniert haben.
Aus dem alten Radio, den ich, als ich ungefähr sieben war, himmelblau angepinselt habe, weil ich ihn nicht schön fand, dudelt leise Musik, zu der Mama leise summt. Sie sieht glücklich aus, zwar etwas gestresst, aber glücklich. Irgendwie macht es mich glücklich, sie so zu sehen, als wäre nie etwas passiert, als wäre es erst gestern gewesen, als ich das letzte Mal zur Schule ging.
"Guten Morgen", sage ich schließlich und räuspere mich. Mama reißt ruckartig ihren Kopf in die Höhe und lächelt mich an.
"Vincent", begrüßt sie mich und wischt ihre Hände an ihrer Schürze ab. Sie kommt auf mich zu und zieht mich in eine feste Umarmung. Ich lasse meine Stirn auf ihre Schulter sinken und merke, wie mir Tränen in die Augen steigen. "Ich bin so, so stolz auf dich", flüstert sie mir ins Ohr und streicht mir langsam durch die Haare. "So stolz."
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Kämpferherzen
General Fiction"Ich kann dir nicht versprechen, dass ich all deine Probleme lösen kann. Aber ich kann dir versprechen, dass du nicht alleine kämpfen musst." ___ Ich glaube nicht an Schicksal. Ich glaube nicht daran, dass unser Leben vorprogrammiert wird, sobald wi...