EINUNDZWANZIG - Judy

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Ich schlucke schwer und mustere mich genauer im Spiegel

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Ich schlucke schwer und mustere mich genauer im Spiegel. Mein ehemaliges Sommerkleid, das mir vor zwei Jahren noch perfekt gepasst hat, reicht nun nur noch knapp bis über meine Knie. An der Brust spannt es ein kleines bisschen und der oberste Knopf am Rücken geht nicht mehr zu. Der dünne blaue Stoff verdeckt nur die Hälfte meines Oberschenkels. Früher trug ich dieses Kleid mindestens zwei Mal pro Woche, weshalb er die dünnen Stoffschichten schon etwas ausgewaschen sind. Ich liebe es nach wie vor, keine Frage. Bei mir ist es so, wenn ich ein Lieblingskleidungsstück habe, dann ist es viele Jahre eines meiner Lieblinge. Ich schlucke schwer und merke, wie mir Tränen in die Augen steigen. Die Nervosität in mir steigert sich spürbar, als ich meinen Blick langsam nach links gleiten lasse. Zu der hässlichen Seite meines Körpers. Klobig und unförmig sehe ich meine Prothese im Spiegel. Schwarz, metallisch, hässlich. Sie ruiniert das ganze Kleid. Ein eiskalter Schauer läuft über meinen Rücken und auf meinen Armen breitet sich Gänsehaut aus. Ich lebe nun beinahe eineinhalb Jahre mit diesem...mit diesem Ding und kann es nach wie vor nicht akzeptieren. Ich möchte nie behaupten, dass ich je schöne Beine hatte, aber sie waren auf jeden Fall schöner als Das

Die erste Träne kullert über meine Wange und ich beiße meine Zähne fest aufeinander. Stumm stehe ich vor dem Spiegel und weine leise. Schaue immer wieder meine Prothese an. Mit jeder Sekunde, die ich mich länger ansehe, sticht mein Herz ein Stück mehr. Meine Hand zittert als ich eine lose Haarsträhne aus meinem Gesicht hinter mein Ohrstreiche. Ich schlucke tief und versuche, tief durchzuatmen. Das ist nur ein blödes Kleid, bei dem man deine Prothese sieht, Judy. Nichts weiter. Nichts, weshalb du dich jetzt so aufregen musst. Stumm schüttle ich den Kopf und versuche, die Stimme aus meinem Kopf zu verbannen. Dieses Kleid ist nicht nur ein blödes Kleid. Darin fand ich mich wirklich hübsch. Ich erlangte Selbstbewusstsein, wann immer ich es trug und fühlte mich schön. Attraktiv. So ähnlich wie Colleen. Jetzt schäme ich mich für das, was ich sehe. Für mich, für mein Bein, für meinen unförmigen Körper, für... Ich kneife meine Augen fest zusammen und schluchze leise auf. Übelkeit steigt in mir auf und ich konzentriere mich darauf, ruhiger zu atmen. Ich hasse es, dass ich es immer noch nicht geschafft habe, mein Bein zu akzeptieren. Dass ich mich immer noch auf dieses Plastikding reduziere. Dass ich nicht mehr Dinge machen kann, die ich früher geliebt habe. Wie zum Beispiel dieses Kleid anzuziehen, ohne in Tränen auszubrechen. Zugegeben, seit dem Unfall ist es heute das erste Mal, dass ich dieses Kleid trage. Ich habe mich vorher nie getraut. Erstens verband ich Colleen mit diesem blauen Stoff, da wir es damals zusammen gekauft haben. Sie zeigte es mir und ich versicherte ihr, dass es genau ihre Farbe und ihr Schnitt wäre. „Dummkopf", lachte sie damals, „ich möchte, dass du es anziehst." Es kostete sie einiges an Überzeugung, um mich tatsächlich in die Umkleide zu bugsieren und nochmal viel mehr, bis ich das Kleid schließlich anzog. Dabei wusste ich von vorne herein, wenn Colleen ein Kleid sah und mir sagte, dass es an mir schön aussehen würde, dann war es auch so. Immer. Ohne Ausnahme. 

Ein Klopfen reißt mich aus meiner Trance. Ich zucke zusammen und drehe mich zur Tür. Miles steht im Türrahmen und runzelt die Stirn, als er mich verheult und in dem blauen Kleid sieht. „Alles okay?", will er wissen. Ich nicke schnell und setze mir ein falsches Lächeln auf. Mein großer Bruder räuspert sich leise. „Ich wollte eigentlich Pizza bestellen und von dir wissen, ob du auch eine willst?" Hastig nicke ich und räuspere mich dann. „Salami bitte, danke." Ich setze ein schiefes Lächeln auf und zwirble eine dunkle Haarsträhne zwischen Daumen und Zeigefinger. „Judy will Salami, Mama!", brüllt Miles nach unten, bevor er zu mir ins Zimmer kommt und die Tür hinter uns schließt. Er lupft eine Augenbraue und verschränkt seine Arme vor der Brust. Ich beiße mir auf meine Unterlippe und schaue auf unsere Füße. Miles rechter Socke hat ein Loch am großen Zeh. „Und du sagt mir jetzt bitte, was los ist", sagt er ruhig. Ich lächle schwach und zucke mit den Schultern. „Es ist wirklich alles okay", flüstere ich. Langsam hebe ich meinen Blick und sehe, wie mich mein Bruder weiter anstarrt. „Judy Ross, ich kenne dich viel zu gut und weiß, dass im Moment definitiv nicht alles okay ist." Mein Herz beginnt schneller zu pochen und ich merke, wie mir eine Träne über die Wange läuft. Schnell drehe ich mich um zum Spiegel und fokussiere wieder mein linkes Bein. Nein, das hässliche Plastikteil, das mein Bein sein soll. 

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