Ich seufze leise und male weitere Kreise auf das inzwischen schon fast komplett schwarze Blockblatt vor mir. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es noch immer acht Minuten bis zum Stundenbeginn sind. Naserümpfend widme ich mich wieder meinem Blatt. Chemie. Ich hasse dieses Fach. Um mich herum sind rege Gespräche am Laufen, ganz hinten hockt eine Gruppe von Cheerleaderinnen, die aufgedreht gackern. Man könnte wirklich meinen, ich wäre hier in einem Hühnerstall.
Chemie konnte ich noch nie besonders leiden. Ich habe ein ganzes Jahr gebraucht, bis ich den Unterschied zwischen Elementen und Molekülen verstanden habe und bin somit im Stoff ziemlich weit hinterher. Außerdem fand ich in diesem Kurs am wenigsten Anschluss, weshalb ich hier alleine auf meinem Platz sitze und Kreise auf das Blatt vor mir male, während die anderen Schüler die Zeit bis zum Unterrichtsbeginn mit dem Schmieden von Plänen fürs Wochenende verbringen. Außerdem stinkt es hier im Raum furchtbar. Warum muss es in jedem Chemieraum stinken? An den Wänden hängen riesige Periodensysteme der Elemente und verschiedenste Plakate von Vorträgen, die wir Schüler selbst gebastelt haben. Bei solchen Präsentationen halte ich mich gerne im Hintergrund. Zu groß ist die Angst, etwas Offensichtliches falsch zu erklären und mich dann vor der ganzen Klasse lächerlich zu machen.
Das Allerschlimmste an Chemie sind jedoch die Hocker. Wir sitzen hier auf keinen Stühlen, sondern sitzen auf alten, harten Holzhockern. An sich wäre es nicht schlimm, aber meinem Bein, oder besser gesagt, meiner Prothese gefällt das überhaupt nicht. Das ist auch der Grund, warum ich ungefähr alle fünf Minuten meine Sitzposition verändern muss, weil der stechende Schmerz in meinem Stumpf zu stark wird. Ich halte meinen Kopf gesenkt und versuche, die letzten wenigen weißen Stellen mit Kreisen zu füllen. So sieht es zumindest von hinten so aus, als hätte ich was zu tun.
Plötzlich verstummen die Gespräche um mich herum. Stirnrunzelnd blicke ich auf und sehe, dass just in diesem Moment unser Chemielehrer den Raum betritt. Seine riesige Brille sitzt wie immer etwas schief und auf seiner hellen Krawatte prangt wie immer ein Kaffeefleck vom Morgenkaffee. Bei dem Anblick muss ich grinsen, erstarre aber, als ich sehe, wer hinter unserem Lehrer den Raum betritt. Meine Augen weiten sich und ich nehme die haselnussbraunen Haare und den leicht schlurfenden Gang war. Wache Augen suchen den Raum ab und bleiben an mir hängen. Ein Lächeln ziert sein Gesicht. Vincent. Ich schnappe leise nach Luft und schüttle schnell den Kopf. Starr ihn nicht so an, Judy! Unser Lehrer sagt etwas zu Vincent und deutet dann auf den leeren Platz neben mir. Vincent grinst, nickt und schlendert dann lässig auf mich zu. Trotzdem hat er nach wie vor ein leichtes Hinken. "Hey", sagt er, als er an meinem Tisch ankommt. "Hey", erwidere ich betont langweilig, versuche mein klopfendes Herz und meine schweißnassen Hände zu ignorieren. Vincent deutet auf den leeren Hocker neben mir. "Mister Pillsbury meinte, der wäre noch frei?" Ich schlucke und nicke. Vincent seufzt, lässt seinen Rucksack gegen das Tischbein fallen und nimmt dann neben mir Platz.
Schweigen breitet sich über unserem Tisch auf, während die anderen langsam wieder die Gespräche aufnehmen. Mister Pillsbury hat das Klassenzimmer schon wieder verlassen, um seine Unterlagen zu holen. Und hoffentlich, um seinen Kaffeefleck aus der Krawatte zu waschen.
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Kämpferherzen
General Fiction"Ich kann dir nicht versprechen, dass ich all deine Probleme lösen kann. Aber ich kann dir versprechen, dass du nicht alleine kämpfen musst." ___ Ich glaube nicht an Schicksal. Ich glaube nicht daran, dass unser Leben vorprogrammiert wird, sobald wi...