1. Prolog

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Tückisch und langsam kroch sie über die grün braunen Hügel der Toskana bis hin ans azurblaue Mittelmeer. Die Mittagshitze. Sie erschwerte allen Lebewesen das Atmen und schien ihre Gedanken zu verflüssigen. Auch in den engen, schattigen Gassen jener italienischen Kleinstadt an der Küste, in der unsere Geschichte spielt, war es unerträglich heiß und stickig. Straßenkatzen lagen maunzend in Hauseingängen, so als machten sie sich bereit für die Mittagsruhe.

Restaurants und Souvenirshops schlossen für ein paar Stunden, bevor sie am Abend wieder öffneten. Auf den Straßen und an dem hellen, weißgelben Sandstrand unterhalb der Kleinstadt waren deshalb hauptsächlich Touristen anzutreffen, die ein bisschen Sonne tankten. Die meisten von ihnen paddelten träge auf Luftmatratzen im Wasser herum, lagen stumm und mit geschlossenen Augen auf ihren Handtüchern oder waren in ein spannendes Buch vertieft.

Eine magische Stille lag über dem fast ausgestorben wirkenden Land. Nichts rührte sich in den verwinkelten Gassen der Altstadt. Nur ab und zu hörte man das Knattern von Vespa-Rollern aus dem Neubaugebiet, das sich neben der Altstadt erstreckte. Die Häuser hier ließen auf wohlhabende Bewohner schließen, die sich mit ausreichend Geld einen Platz am Meer und an der Sonne gesichert hatten. In eben diesem Neubaugebiet stand ein Haus mit gepflegtem Vorgarten. Die zugezogenen Vorhänge und der in der Sonne leuchtende orange-gelbe Anstrich des Hauses verströmten eine gemütliche Ruhe. Doch dieser Eindruck täuschte, denn hinter den hell gestrichenen Wänden herrschte ein zerstörerischer Kampf. Wäre man an jenem Tag durch die Haustür in den Flur getreten, der bis auf ein paar Umzugskartons an den Wänden wie leergefegt war, hätte man zwei Stimmen hören können, die sich anschrien. Sie gehörten einer Frau und einem Mann, die sich augenscheinlich sehr heftig stritten.

„Was erwartest du denn von mir? Dass ich heulend hier rumsitze und darauf warte, dass alles von alleine besser wird? Elender Klugscheißer!", brüllte sie. „Ich habe zwei Kinder, um die ich mich kümmern muss!"

„Ich erwarte von dir, dass du dich nicht verhältst wie ein kleines Kind, das nie gelernt hat, auf eigenen Beinen zu stehen!", rief der Mann seinem Gegenüber entgegen.

„Ach verpiss dich einfach und trete mir nie wieder unter die Augen!" Die Stimme der Frau überschlug sich regelrecht und brodelte nur so vor Abscheu. Lautes Gepolter verriet, dass sie aufgebracht die Treppe hinunter stürmte. Einen Moment später stand sie orientierungslos wirkend im Flur. Sie drehte den Kopf nach rechts und links, wie um einen Fluchtweg zu suchen, dann blinzelte sie die Tränen weg, die in ihren Augen empor stiegen. Schnell schüttelte sie den Kopf. Nein, sie würde nicht weinen. Diese Blöße würde sie sich nicht geben. Nicht vor ihm.

Sie fuhr sich mit der Hand durch die ungekämmten, langen Strähnen, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatten. Der Mann, mit dem sie sich stritt, stürmte ebenfalls die Treppe hinunter. Er war nicht viel größer als sie, doch seine überwältigende, starke Ausstrahlung ermöglichte es ihm, mit seiner Präsenz beinahe das gesamte Treppenhaus einzunehmen.

Er packte die Frau hart am Arm, woraufhin sie sich losriss. Noch im gleichen Moment wirbelte sie herum, um ihn aus ihren dunkelbraunen Augen anzufunkeln. Wut war ein so viel lebendigeres Gefühl als Trauer. Und Wut tat ihr gut. „Wag es ja nicht, mich noch einmal anzufassen!", zischte sie ihm entgegen.

„Ich will doch nur meine Sachen. Dann lasse ich dich in Ruhe, für immer. Glaub mir, manche von deinen Wünschen werden sich erfüllen." Obwohl er ziemlich ruhig sprach, klangen seine Worte in den Ohren der Frau wie ein verärgertes Schreien. Die Drohung hinter ihnen ließ das Herz der Frau schmerzhaft schneller schlagen.

„Ich kann nichts dafür, dass es dir plötzlich so unglaublich wichtig ist, abzuhauen und uns alleine zu lassen", brüllte sie zurück, „noch vor zwei Monaten wäre deine kleine Tochter beinahe gestorben und jetzt tust du so, als würde sie dir gar nichts bedeuten! Du nimmst mir das Wichtigste in meinem Leben. Ist dir das klar?"

„Sie bedeutet mir etwas, das kannst du mir glauben. Du bist mir auch so wichtig... doch dieses Familiending... das ist nichts für mich. Ich bin einfach nicht dafür gemacht." Während er das sagte, blieb seine Stimme fest und seine Augen starr auf sie gerichtet. Nichts an seinem Ausdruck verriet, wie er sich fühlte. Es war, als blickte man einer Maske aus emotionaler Taubheit entgegen. In diesem Moment kam er ihr so fremd vor. Das war nicht der Mann, in den sie sich verliebt und den sie geheiratet hatte und gleichzeitig war er es doch. Diese Erkenntnis traf sie wie ein giftiger Pfeil ins Herz. Währenddessen erweckte seine scheinbare Gefühllosigkeit ein schlummerndes, böses Monster in ihrer Brust, das sich nicht zähmen ließ und das vollkommen die Kontrolle übernahm. Mit einem wütenden Aufschrei packte sie sich einen der Umzugskartons und warf ihn mit aller Kraft zu Boden.

„Lass das!", rief er, so als könnte er sie damit zur Vernunft bringen. Dann kam er langsam auf sie zu. „Ich werde jetzt meine Sachen ins Auto laden und sie mitnehmen. Wo sind meine Unterlagen?" Als er das sagte, erreichte seine Stimme bedrohliche Tiefen. Doch die Frau blieb davon unbeeindruckt.

„Es war klar, dass es unserem großen Wissenschaftler mal wieder nur darum geht", warf sie ihm entgegen, „die Unterlagen aus der Universität. Als ob es nichts Wichtigeres auf der Welt gäbe."

„Meine Arbeiten sind sehr wichtig und vielleicht wirst du das eines Tages verstehen" antwortete er, „und du bist mir auch wichtig. Unsere Töchter sind mir wichtig. Aber ich kann das nicht mehr. Ich kann dir nicht erklären warum, aber glaub mir, wenn ich dir beteuere, dass ich das alles niemals so gewollt habe. Ich werde dir genug Geld überweisen, damit ihr durchkommt."

„Und dann, nie wieder Kontakt?" Sie zitterte, in ängstlicher Erwartung der Antwort. Ein Teil von ihr hoffte, dass sie ihn nie wieder sehen musste, während ein anderer sich danach sehnte, von ihm in die Arme genommen und lieb gehalten zu werden, so als sei nie etwas geschehen.

Die Ambivalenz ihrer Gefühle war so stark, dass sie die Tränen nicht länger unterdrücken konnte. Heiß und brennend rannen sie über ihr Gesicht und entstellten ihre hübschen Züge.

„Weißt du eigentlich, was du mir alles nimmst? Es ist, als wärst du gestorben." Sie konnte sich nicht daran erinnern, sich je in ihrem Leben so elend gefühlt zu haben und obwohl ihre Gefühle so stark und mächtig waren, gab es da immer noch einen Teil, tief in ihr, der nicht verstehen wollte, was da gerade passierte.

„Würde es das denn besser machen?", fragte er und für einen kurzen Moment zuckte ein Hauch von tiefer, essentieller Verzweiflung über sein Gesicht. Kurz darauf war diese Gefühlsregung aber schon wieder verschwunden und sie war sich nicht sicher, ob sie sich das nur eingebildet hatte.

„Ich...", begann sie, doch noch bevor sie weitersprechen konnte, wurde die Haustür geöffnet und ein kleines Mädchen trat über die Schwelle. Sie steckte in einer blauen Latzhose und hatte die langen dunklen Haare zu zwei Zöpfen geflochten. Als sie die beiden Erwachsenen im Flur stehen sah, breitete sich auf ihrem Kindergesicht ein unschuldiges Lächeln aus, das eine Zahnlücke offenbarte. Dem Anschein nach war sie noch frisch, denn das Zahnfleisch an dieser Stelle war geschwollen und blutig. Triumphierend hob sie ein kleines Kästchen hoch. „Signora Belluco hat mir das geschenkt, für meinen ersten Zahn. Pietro ist beim Kämpfen mit dem Kopf gegen mich gestoßen", rief sie euphorisch und deutete auf ihren Mund, „da ist mein Wackelzahn rausgefallen. Das hat gar nicht wehgetan. Kommt dann heute die Zahnfee zu mir?"

Als das Mädchen die Tränen auf dem Gesicht der Frau sah, erstarb ihr Lächeln und machte einem erschrockenen Ausdruck Platz. Kein Kind sieht seine Eltern gerne weinen. Sogar wenn wir erwachsen sind, haben wir oft noch ein Problem damit, auch wenn wir schon längst wissen, dass unsere Eltern genauso verletzlich sind wie wir selbst.

„Mummy, was ist denn los?", fragte sie erschrocken.

Der Mann trat von hinten an die Frau und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Hast du es ihnen noch nicht erzählt?", wollte er wissen. Unter seiner Berührung brach die Frau schluchzend zusammen. Selbst wenn sie es gewollt hätte, sie hätte ihren Kindern nichts von dem erzählen können, was geschehen war. Denn wie um alles in der Welt macht man anderen Menschen etwas begreiflich, das so schrecklich ist, dass man selbst nicht verstehen kann?

Die ElementeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt