Prolog

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Jack

Es war Dienstagmittag, exakt zwölf Uhr. Ich hörte meinen Handywecker klingeln und fuhr nervös herum. Warum hatte ich ihn überhaupt angestellt?
Ich war seit fünf Uhr morgens wach und hatte seitdem kein Auge mehr zubekommen. Allein das war der Grund, aus dem ich schon seit Stunden abreisefertig im Zimmer herumrannte, wie ein Tiger im Käfig. Und das, obwohl mein Flug erst in zwei Stunden ging. Mit schwitzigen Händen griff ich nach dem Gerät und schaltete den Alarm aus, dann lief ich wieder im Schlafzimmer umher, den Blick auf die Uhr gelegt.
Man könnte meinen, ich sollte versuchen mich zu tarnen, vielleicht sogar abzutauchen, aber trotzdem war ich angezogen wie auch schon vor einer Woche. Ein schwarzer Anzug, weißes Hemd und schwarze Lackschuhe.
Ich warf einen Blick in meinen Spiegel, wobei, streng genommen, es der Spiegel des Hotels war, in dem ich seit ein paar Tagen wohnte. Für einen Geheimagenten auf der Flucht war ein großes Hotel mitten in von New York wohl nicht das beste Versteck.
Das Leben als Agent ist nicht allzu aufregend, nicht so, wie man es aus den James Bond Filmen kannte. Nachdem ich einen Beruf bei meiner, vermutlich nun, ehemaligen Arbeitsstelle angenommen hatte, war ich in freudiger Erwartung gewesen, ein Abenteuer nach dem anderen zu erleben. Oder zumindest etwas von einem Abenteuer zu riechen.
Aber: es war im Prinzip nichts weiter als ein Bürojob, bei dem man zerstückelte Akten bekam, um sich selbst nichts erschließen zu können.
Als ich vor ein paar Tagen etwas über ein paar geheime Informationen erfahren hatte, war ich allerdings neugierig geworden. Zu neugierig. Niemand hatte je auf mich geachtet, kaum einer dort hatte mich beim Namen gekannt, und deswegen hatten sie wahrscheinlich ganz einfach nicht damit gerechnet, dass ich zu einer solchen Tat in der Lage war: Ich stahl einen Stick mit Daten und verkroch mich hier, in der Angst einer meiner alten Kollegen könnte die Tür eintreten und mich umlegen.
Je näher die Stunde der Abreise rückte, desto panischer schritt ich im Zimmer auf und ab.
Ich suchte, bereits seit gestern, alles zusammen was ich für ein neues Leben brauchte. Mein Reisepass, der Personalausweis, der Lebenslauf und sämtliche andere Papiere waren gefälscht. Das war in der Tat das Einzige, was ich in der Agentur gelernt hatte. Papiere zu fälschen.
Noch einmal ging ich die Liste im Kopf durch, schnappte mir dann mein Gepäck und verließ mit weichen Knien das Zimmer. Ich schloss die Tür ab, eilte die Treppe runter und ließ den Schlüssel mit einigen Scheinen auf den Tresen fallen. Dann verschwand ich durch die Drehtür des Hotels.
Zügig schritt ich über die Straße und hielt mir ein Taxi an. Ich wies den Fahrer an mich zum Flughafen zu fahren.
Immer noch anderthalb Stunden Zeit ... Grade genug, um durch die Innenstadt und die Kontrolle zu kommen.
In einem muffigen Taxi, auf dem Weg zum Flughafen, mit geheimen Infos in der Tasche und höchstwahrscheinlich einem Mörder auf den Versen, so hatte ich mir mein Leben nicht vorgestellt.
Ich hatte zwar vor zwei Jahren einen aktiveren Job gewollt ... Allerdings war mir mein alter Schreibtisch im damaligen Stadtbüro im Nachhinein doch lieber. Ich meinte: Was sollte ich eigentlich mit diesen Daten anfangen? Verkaufen? Vernichten? Das alles waren Optionen, die ich mir vorher hätte überlegen sollen. Ich rieb meine vor Stress eiskalten, schwitzigen Finger aneinander und betitelte mich in Gedanken so oft mit dem Wort „Idiot", dass es nach der zwanzigsten Wiederholung anfing, seinen Sinn zu verlieren.
Der Fahrer bremste stark und mein Herz begann zu rasen. Mein Gepäck wurde bei dem Ruck gegen mich geschleudert und traf mich hart am Knie. Ich fluchte und schob den Hartschalenkoffer wieder zur Seite.
Dann ertönte ein Knall.
Das Blut gefror mir in den Adern und ich erstarrte. Mehrere Sekunden zogen vorüber, ehe ich begriff, dass dies der Schuss einer Pistole gewesen sein musste. Ich schnappte nach Luft und schaffte es im selben Augenblick die Kontrolle über meine Muskeln wiederzuerlangen. Keine zwei Sekunden später klopfte ich panisch an die Trennscheibe zur Fahrerseite. Doch der Fahrer hing mit dem Kopf auf dem Lenker und Blut rann aus einer Schusswunde an seiner Schläfe.
„Shit!", fluchte ich leise und duckte mich. Sie hatten mich gefunden.
Rundherum hupten andere Autofahrer, während ihr größtes Problem einfach eine saftige Verspätung zu sein schien. Ich wagte mich kaum zu atmen und versuchte in all dem Stress, all dieser Todesangst, einen klaren Gedanken zu fassen.
Ein Schatten tauchte vor der getönten Fensterscheibe auf.
„Nein, nein, nein!", zischte ich und sprang auf der anderen Seite des Taxis aus der Autotür. Warum rannte ich weg? Ich hatte keinen blassen Schimmer, wo ich jetzt noch hin sollte und dennoch trugen mich meine Füße ganz automatisch fort. Weg von der Gefahr.
Ich sprintete auf den Bürgersteig, eine Gestalt, gehüllt in Schwarz, folgte mir. Dann weiter in die Fußgängerzone. Ich scherte mich nicht um die Beschimpfungen und Rufe der Leute, die ich anrempelte. In einem grausamen Augenblick wurde mir klar, dass ich sterben würde.
Tränen brannten in meinen Augen und mischten sich mit der Frucht vor dem Nachleben. Gut, ich würde sterben, aber ich wollte das nicht in der Öffentlichkeit tun. Nicht vor Kindern und Erwachsenen, die sich vielleicht nie mehr von dem Anblick erholten. Also bog ich scharf in eine Seitengasse ein und gottseidank war sie verlassen. Keine jugendlichen Gangs, keine Obdachlosen, niemand. Nur eine Katze, die fürchterlich vor meinen trampelnden Schritten erschrak und dann eilig flüchtete.
Ich sah mich nach meinem Verfolger um und prallte gegen eine Mülltonne. Unter dem stechenden Schmerz gab mein Bein nach. Scheppernd krachte die Mülltonne zu Boden, ebenso wie ich. Ausgestreckt landete ich auf dem Bauch, meine Hände knallten vor mir auf den rauen Stein und wurden dadurch aufgescheuert. Ich presste die Zähne zusammen und versuchte meine Umwelt zu sortieren, die von dem Aufprall noch ein wenig schaukelte. Ich drehte mich schwerfällig auf den Rücken und nahm meinen Verfolger in Augenschein. Er hatte einen schwarzen Hut tief ins Gesicht gezogen und trug eine Sonnenbrille. Sein Umhang - oder war es nur ein weit geschnittener Mantel?- reichte bis knapp über den Boden und wehte gespenstisch, als er auf mich zukam. Langsam und entspannt, fast als wolle er einen Plausch mit einem alten Freund beginnen. Er bewegte sich elegant und lautlos und erinnerte mich an eine Katze, die sich an ihre Beute anpirschte.
Ich versuchte mich aus meiner erneuten Starre zu befreien, konnte mich jedoch nicht bewegen.
„Wer bist du?", fragte ich mit brüchiger, kaum hörbarer Stimme. Das war das einzige wozu ich imstande war und im Nachhinein eine sehr erbärmliche Frage, wenn man davon ausging, dass es meine letzte gewesen sein konnte.
„Wozu willst du das wissen? Dem Bestatter wirst du es wohl kaum mehr erzählen können", er ließ eine kurze Pause, „Stell einfach keine weiteren Dummheiten an, dann werde ich auch ein wenig großzügig sein", sagte der Verfolger. Es war hundertprozentig ein Mann, denn seine Stimme war tief und beinahe hypnotisierend. Er blieb vor mir stehen und hockte sich hin. Mit einem Grinsen, wie in Stein gemeißelt, zeigte er seine leeren Hände, so als würde er mir demonstrieren, dass er ohne Waffe keine Gefahr darstellte.
Von einer Sekunde, auf die andere, schoss seine rechte, schwarz behandschuhte Hand vor und schloss sich um meine Kehle.
„Großzügig?", japste ich und ein Funken zweifelhafter Hoffnung flammte in meiner Brust auf. Er hatte seine Waffe weggesteckt, oder? Vielleicht wollte er ja nur die Daten haben und dann würde er mich ...
„Großzügig im Sinne von, ich mach' es schnell und schmerzlos. So gut wie zumindest", klärte der Mann mich auf und erstickte damit meine neu gewonnene Energie im Keim. Er hob mich am Hals hoch und drückte mich gegen die Hauswand. Meine Hände klammerten sich ganz automatisch um sein Handgelenk und versuchten den Druck von meiner Luftröhre zu nehmen, damit ich wieder atmen konnte. Mir war noch nie jemand untergekommen, der einen ausgewachsenen 95 Kilo Mann problemlos 30 cm über dem Boden baumeln zu lassen konnte. Ein Wimmern drang aus meiner Kehle, als mir die Luft weiter abgeschnitten wurde.
„Denk an irgendwas für das es sich zu sterben lohnt", knurrte der Mann mir zu und Tränen stiegen mir in die Augen, „Und stell dich gefälligst nicht so an.", fügte er angewidert hinzu. Ich dachte an meine Sekretärin, mit ihren hellbraunen Augen und den dunkelblonden Haaren... Doch ich verdrängte den Gedanken so schnell, wie er mir gekommen war, er war zu schmerzhaft. Ich würde sie nie wieder sehen, warum also an sie denken?
Stattdessen studierte ich ein letztes Mal das Gesicht meines Gegenübers. Er war blass und dünn, beinahe mager. Markante Züge zeichneten sich in seiner Kieferpartie ab und er schien, zu meiner persönlichen Überraschung, noch relativ jung zu sein. Seine Mimik war ausdruckslos, irgendwie furchterregend. Und auch aus der Nähe konnte ich nicht durch die dunklen Gläser seiner Brille spähen. Dann lächelte der Mann und bleckte spitze, ungewöhnlich lange Eckzähne.
„Was zum ...?", doch bevor ich meine Frage beenden konnte, bohrten sich diese Eckzähne schon in meinen Hals. Es brannte wie Säure und ging in einen angenehmen, gleichmäßigen Sog über. Mein Bewusstsein schwand, zusammen mit Panik und Schmerz.
Noch ein letztes Mal dachte ich an das dunkelblonde, glatte Haar meiner Sekretärin, an ihre sanfte Stimme, die mich vorige Woche zum Essen eingeladen hatte - wie gerne hätte ich zugesagt.
Dann wurde alles schwarz und ich wusste, dass ich tot war.

Vampire Agent (abgeschlossen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt